Lustvoll und zielstrebig ist sie den weiten Weg von der Bürolehre bei einem Metzger bis zur wissenschaftlichen Lehre an der Uni gegangen. Dazwischen lagen Jahre als Op-Schwester, die Arbeit mit cholerischen Ärzten und die Geburt zweier Kinder. Und auch sonst noch allerhand.


Tomaten und Operationen

Uschi: Wieviele Stunden hat ein Tag für dich?

Annemarie: Keine Ahnung. Viele (… lacht herzlich). Manchmal bräuchte ich mehr.

Annemarie im Garten

Uschi: Du pendelst zwischen Linz und Salzburg, wo du an der Medizinischen Privatuniversität lehrst, warst in den letzten zwei Jahren mit der Planung und dem Bau eines großen Hauses beschäftigt und hast außerdem an verschiedenen Studien mitgearbeitet. Und das mit zwei Kindern im Alter von eineinhalb und dreieinhalb Jahren, wobei du mit dem Vater deiner Kinder nicht zusammenlebst und das alles alleine stemmst. Erscheint dir das nicht selbst etwas viel?

Annemarie: Nein. Das wird mir nicht zu viel. Früher habe ich neben meiner Ausbildung zur Krankenpflegerin Tomaten gesetzt. Es war immer viel und das ist auch schön so. Das macht mir Spaß.

Uschi: Tomatenstauden zu pflegen ist aber eher einfach im Vergleich.

Annemarie: Aber das „Kochrezept“ ist immer das Gleiche. Egal ob ich im Operationssaal bin oder Wissenschaft betreibe - es funktioniert nach Rezept. Man geht nach einem bestimmten Schema vor. Außerdem habe ich immer viele Menschen um mich, die mir helfen: Die Assistenten an der Uni, die mir vieles abnehmen, einen Chef, der super ist und mit dem ich über Skype kommunizieren kann, wenn ich nicht in Salzburg bin.

Annemarie Dieplinger

Geboren 1970 in Natternbach, Oberösterreich

1991 Diplom in der Gesundheits- und Krankenpflege, Allgemeines Krankenhaus der Stadt Linz

1991-2005 Krankenpflege Gynäkologie und Operationsdienst AKH Linz, diverse Weiterbildungen

2000 Studienberechtigungsprüfung

2000-2003 Studium der Soziologie, Johannes Kepler Universität Linz

2005 Doktorat für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Dissertationsthema: „Frauengesundheit eine gesundheitssoziologische Herausforderung"

2004 - 2012 Leiterin der medizinischen Stabstelle Sozialdienst und Entlassungsmanagement AKH Linz

2005-2015 Dozentin an der Fachhochschule Kärnten

2010 Wissenschaftliche Leitung Frauengesundheitsbericht Österreich

2012 Lehre an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München

2013 - 2016 Universitätsdozentin am Institut für Gesellschaft- und Sozialpolitik, Projektmanagement und empirische Studien, Johannes Kepler Universität Linz

2014 - 2016 Studiengangsleitung Pflegewissenschaft - Masterstudiengang, Paracelsus Medizinische Privatuniversität, Salzburg

Annemarie hat zwei Kinder

„Das Dirndl kann mehr“

Annemarie wuchs in Natternbach, einem oberösterreichischen Ort mit etwas über zweitausend Einwohnern im Bezirk Grieskirchen, auf. Zur Schule pendelte sie nach Deutschland aus. Sie besuchte die Realschule der Englischen Fräulein.

Annemarie

Annemarie: In diese Schule wollte ich, weil sie in einem Schloss auf einer Insel im Inn lag. In Natternbach hat es ja gar nichts gegeben. Ich sage immer: Nach Natternbach geht man, wenn der Krieg ausbricht, denn das finden sie nicht. (… lacht und spricht Natternbach im Innviertler Dialekt aus).

Uschi: Nach der Schule solltest du in der Schuhfabrik Högl am Fließband beginnen.

Annemarie: Da haben sie mich aber nicht genommen, weil ich beim Vorstellungsgespräch so viel gefragt habe. Dann hatte ich Glück: Meine Mutter putzte bei meiner ehemaligen Volksschullehrerin, die mich immer gefördert hatte, und diese Frau Preisch sagte zu meiner Mama: „Tu das Dirndl nicht in die Fabrik. Die kann mehr.“

Vom Nachtclub in die Schwesternschule

Annemarie begann eine Bürolehre in einer Metzgerei in Schärding, die allerdings nach zwei Jahren in Konkurs ging. Sie bekam die Genehmigung die Lehre außertourlich in einem Nachlokal abzuschließen. Sie arbeitete von sieben Uhr abends bis sechs Uhr früh, oft allein im Lokal mit etlichen betrunkenen Männern.

Uschi: Feige bist du nicht.

Annemarie: Von meiner Großmutter habe ich gelernt, dass du als Frau nicht feige sein darfst. Sie hat immer bestimmt, wo es lang geht, hat den Männern am Hof angeschafft, was zu tun war, weil ihr Mann krank war. Und wenn in der Gemeinde etwas zu tun war, zum Beispiel eine Bachbegradigung, dann ist sie hingegangen und hat die schweren Steine geschupft. Meine Oma war mir Vorbild. Und auch meine Mutter hat immer gesagt: „Schau, dass du eigenständig bist und nicht auf einen Mann angewiesen bist!“

Parallel dazu arbeitete Annemarie in der Praxis eines Arztes in Schärding, was sie auf die Idee brachte, Krankenschwester zu werden. Sie holte einen österreichischen Schulabschluss nach, da ihr deutscher Schulabschluss nicht ausreichte. Damals war sie laut Eigendefinition ein richtiges Landei.

Annemarie: Ich bin mit einer Nachbarin nach Linz gefahren und dann allein an einer Ampel gestanden und habe nicht gewusst, wie ich über die stark befahrene Straße kommen sollte. Ich hatte keine Ahnung, dass ich auf die Ampelsteuerung drücken sollte, damit es grün wird. Ich bin dann wieder umgedreht, weil ich mich nicht über die Straße getraut habe.

Zum Dienen erzogen

Die dreijährige Ausbildung zur Krankenpflegerin vergleicht Annemarie mit den Anforderungen eines Studiums.

Annemarie: Diese Ausbildung ist so hochwertig, dass ich mich schon frage, warum Krankenschwestern nicht mehr anerkannt und besser bezahlt werden. Wenn du mit dem Beruf beginnst, bist du ganz unten in der Hierarchie. Man wird auch zum Dienen erzogen. Mit genügend Berufserfahrung, darf man sich dann schon mehr trauen, aber die Hierarchie bleibt.

Uschi: Du warst anfangs in der Gynäkologie bei den Neugeborenen im Kinderzimmer.

Annemarie: Damals gab es das volle Rooming-In noch nicht und ich hatte bis zu fünfzehn Kinder im Nachtdienst. Bei bis zu acht Nachtdiensten im Monat war das nicht witzig. Da ist der Stress permanent auf einem gewissen Level.

Uschi: Du hast dann zehn Jahre als OP-Schwester gearbeitet, da war der Stress ja auch nicht weniger.

Annemarie

Annemarie: Das war anders. Da konnte ich mich bei Nachtdiensten zwischendurch hinlegen. Wenn mein Piepser ging, musste ich zwar innerhalb von Sekunden von Null auf Hundert sein, aber das war mir lieber. Und die Zeit verging schneller. Obwohl es natürlich anstrengend ist, ohne Tageslicht und mit cholerischen Ärzten zusammenzuarbeiten. Die ersten zwei Jahre habe ich noch bei jedem Notfall Herzklopfen gehabt und war ganz darauf konzentriert, nichts falsch zu machen. Nach einigen Jahren macht man dann alles wie im Schlaf, kann perfekt agieren, den Raum dabei beobachten und währenddessen Arbeiten an eine junge Schwester delegieren.

Uschi: Warst du eine gute OP-Schwester?

Annemarie: Ja schon.

Uschi: Wie kamst du dann wieder vom Adrenalin runter?

Annemarie: Ach, da haben wir uns danach einfach im Raucherraum zusammengesetzt und haben eine geraucht. Das war halt früher so.

Die gläserne Decke

Nach zehn Jahren Arbeit als Krankenpflegerin legte Annemarie die Studienberechtigungsprüfung ab und begann im zweiten Bildungsweg Soziologie zu studieren.

Annemarie: Ich war an der gläsernen Decke. Ich war mir gar nicht sicher, ob ich die Studienberechtigungsprüfung wollte und ob ich sie schaffen würde. Ich habe einfach mit Englisch begonnen, das lief dann gut und ich habe mir die Deutschprüfung vorgenommen. Bei Mathematik war ich dann sehr unsicher. Da hatte ich einen Nachhilfelehrer, der an mir fast verzweifelt ist. Das war der Ehemann einer Freundin und da dachte ich, jetzt hat der soviel in mich investiert und habe es durchgezogen. Und irgendwann hatte ich dann alle Prüfungen.

Uschi: Warum Soziologie?

Annemarie: Ich habe mir den Studienplan angesehen und mich darin gefunden. Und ich war einfach daran interessiert zu messen, nachzuweisen, wollte statt eines subjektiven Gefühls dafür, wie die Dinge laufen, alles auf ein breites objektives Messergebnis stellen.

Uschi: Zeit für Privatleben gab es da wohl nicht viel.

Annemarie: Doch, schon. Bis zum dreißigsten Lebensjahr habe ich viel Zeit und auch ein Privatleben gehabt. Dann war ich alleine ohne Beziehung, und die Zeit habe ich dann für das Studium genützt. Mir wäre ja die Decke auf den Kopf gefallen (…lacht).

Vom OP-Saal in den Hörsaal

Annemarie arbeitete weiter vierzig Stunden im Krankenhaus und schaffte das Studium nebenbei in der Mindeststudiendauer von drei Jahren.

Annemarie: Ich habe zum Beispiel im OP gelernt, wenn es nichts zu tun gab. Vor allem aber habe ich mir alles gut eingeteilt. Ich wusste, ich brauche pro Semester fünfzehn Scheine, davon fünf schwere, das war immer mein Pensum. Es hat mir einfach wahnsinnig Spaß gemacht.

Annemarie am Computer

Uschi: Warum?

Annemarie: Wieder etwas zu schaffen, wieder etwas zu erreichen. Das war so schön. Als ich dann mit der Diplomprüfung fertig war, hatte ich das Gefühl, dass es mir zu schnell gegangen ist. Es war fast schade, dass es aus war. Ich habe auch viele tolle Professoren gehabt. In Statistik bin ich immer in der ersten Reihe gesessen, ich war so etwas wie ein Indikator. Wenn ich blöd geschaut habe, dann hat der Professor gewusst, dass er es besser erklären muss. Vor der Prüfung bin ich dann noch zu ihm und habe ihm gesagt, dass ich das mit der Wahrscheinlichkeit nicht begriffen habe. Und dann hat er es mir erklärt.

Uschi: Das heißt, dass du es immer verstanden hast, Menschen zu finden, die dich fördern.

Annemarie: Ich habe gute Förderer gehabt, übrigens überwiegend Männer, abgesehen von meiner Volksschullehrerin. Der Nachhilfelehrer, Professoren, Chefs, ein Freund in Wien. Ich denke, wenn jemand etwas gut kann, dann ist es an mir, ihn um Hilfe bitten. Ich bin einfach auf alle zugegangen. Das ist mein Ding.

Annemarie war es wichtig, dass sie das Erlernte später auch in der Praxis im Krankenhaus anwenden konnte. Sie konzentrierte sich auf Arbeitspsychologie, Rechtspsychologie und Gesundheitssoziologie.

Uschi: Du hast also sehr zielgerichtet studiert und damit auch einen Karriereschritt verfolgt.

Annemarie: Das habe ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht so genau gewusst. Die Oberschwester hat mich dann dazu motiviert, das Doktorat zu machen. Dafür bin ich ihr heute sehr dankbar. Nach dem Doktorat bin ich immer noch im OP gestanden. Mein damaliger Chef, der Primar, hat im OP immer gesagt: „Frau Doktor Annemarie…“ (…lacht).

Nicht herumgurken

Drei Monate nach Abschluss des Studiums bekam Annemarie eine Stelle im Sozialdienst des Krankenhauses, arbeitete aber weiter fünfzig Prozent im OP, bis sie schließlich die Leitung des Sozialdienstes übernahm. Das Konzept dieses Dienstes ist es, schwer erkrankte Menschen nicht einfach aus dem Krankenhaus zu entlassen, sondern ihnen Wege zur Versorgung zu zeigen und zu erleichtern und Angehörige zu beraten.

Uschi: Du hattest wieder mit schwer kranken Menschen zu tun. Welche Wirkung hatte das auf dein Leben? War das nie belastend für dich?

Annemarie: Nein, gar nicht. Im Gegenteil, es war ja nie ein Fall wie der andere. Ich habe immer die Feuerwehr im Haus gespielt, und es war für mich eine Herausforderung in kürzester Zeit zu checken, wie es funktionieren könnte, sowohl rechtlich als auch versorgungstechnisch. Das ist schon spannend.

Uschi: Du machst schnell aus etwas eine Herausforderung.

Annemarie: Ja, ich bin sehr lösungsorientiert. Ich hasse es, wenn jemand herumgurkt. Ich weiß noch, wie es einmal darum ging, einen Obdachlosen unterzubringen. Beim Land Oberösterreich bin ich dabei auf Widerstände gestoßen und habe denen dann erklärt, wir könnten den Patienten ja auch einfach umbringen, dann hätten wir den Akt vom Tisch. Mit solchen Signalen kann ich die Leute auf den Punkt bringen. Dann ist auf einmal alles gegangen.

Uschi: Du hast keine Scheu, Menschen gegenüber. Warum hast du dich von Anfang an viel getraut und kannst mit Menschen immer auf Augenhöhe reden, obwohl du in einem sehr hierarchischen System gearbeitet hast?

Annemarie: Ich habe im OP viel erlebt. Da gibt es zwei Wege: Entweder man lässt es zu, wie man teilweise behandelt wird und lässt sich kleiner machen, oder man sagt: „Stop, mit mir nicht!“ Die Erfahrung, die Kompetenz spielen dabei eine Rolle. Und das Wissen darum, dass wir alle gleich sind. So wie die Menschen am OP-Tisch. Offen auf dem OP-Tisch liegend sind alle gleich, deshalb gibt es nix, wovor ich mich fürchten würde.

Stillen während der Vorlesung

Annemarie hat zwei Kinder im Alter von eineinhalb und dreieinhalb Jahren. Der Vater der Kinder lebt in München.

Uschi: Ich habe beobachtet, dass deine eineinhalbjährige Tochter alleine über die Stiegen geht und es bei dir im Haus keine Stiegenschutzgitter gibt.

Annemarie mit Kind

Annemarie: Ich finde, dass Kinder motorisch so gut drauf sein müssen, dass sie sich abrollen können, wenn sie einmal wo runterfallen. Das müssen sie gelernt haben. Ich kann sie nicht dauernd tragen und schützen. Sie müssen lernen. Wenn sie hinfallen, dann springe ich nicht auf, so wie andere, sondern bleibe sitzen und schaue mir an, ob sie bluten. Ich höre am Schreien, ob es ernst ist. Ich will bei Kindern keine Panik erzeugen. Je mehr Panik ich ihnen vermittle, desto geringer sind ihre Schwellen. Wenn sie sich weh tun, ist die Mama da: kurz kuscheln und ablenken und weiter geht es. Ich lasse meinen Sohn auch über drei, vier Stufen springen, ich traue es ihm zu, ich weiß, dass er das kann.

Uschi: Bist du trotzdem auch sorgend?

Annemarie: Sorgend insofern als ich koche und die Kinder nicht von Fertigprodukten und Fastfood leben und sie eine gute Betreuung haben, wenn ich nicht da bin. Oder dass ich die Kinder ins Bett bringe, ich gehe halt am Abend nicht weg. Sie schlafen auch beide bei mir im Bett.

Annemarie fährt regelmäßig zu Lehrveranstaltungen nach Kärnten und nimmt dabei ihre Kinder und eine Babysitterin mit.

Annemarie: Freilich ist das nicht immer ein Honiglecken aber es ist ein schönes Einkommen und ich gestalte das für die Kinder so, dass sie glauben, es ist Urlaub. Natürlich ist das aufwändig und andere würden vielleicht sagen, dass das nicht geht, aber ich habe den Buben schon mit drei Wochen zu Lehrveranstaltungen mitgenommen und ihn in der Pause gestillt.

.....und außerdem:

Name: Mein offizieller Name ist Anna Maria. Der Pfarrer in Natternbach hat gesagt, es gibt keine heilige Annemarie, darum nennen wir sie Anna Maria, meine Mutter aber hat mich immer Annemarie genannt und darum heiße ich auch so.

Hobbies: Ich liebe Architekturzeitschriften und wenn ich Kinderbetreuung habe, gehe ich einmal zur Kosmetik oder setze mich auf mein Mountainbike oder wandere.

Freunde: Ich habe Freunde, die auch sehr eingespannt sind, und wenn wir etwas ausmachen, dann ist das sehr zielgerichtet und schön, und ich habe Freunde, von denen höre ich ein ganzes Jahr nichts, und wenn wir uns sehen, so ist das, als wenn wir gestern auseinandergegangen wären.

Sparen auf hohem Niveau

Uschi: Wenn du in Salzburg an der Uni bist, werden die Kinder von einer Babysitterin betreut. Wenn du zu Vorträgen nach Tirol oder Wien fährst, nimmst du sie mit. Du musst dein Leben ziemlich gut organisieren, um das alles auf die Reihe zu kriegen.

Annemarie: Ja, und das geht gut. Und ich habe verlässliche Frauen um mich.

Uschi: Was natürlich auch eine Frage des Geldes ist.

Annemarie: Ja, und es gibt Zeiten, in denen ich mich einschränken muss. Mir ist es wichtiger den Babysitter zu bezahlen, als den teuersten Schinken zu kaufen. Ich versuche in die richtige Richtung zu sparen.

Uschi: Das sagt sich leicht, wenn man, wie du, in einem schönen, großen Haus lebt. Das ist schon Sparen auf hohem Niveau.

Annemarie: Ich habe jetzt erreicht, dass ich in meinem Haus leben kann, dass es eingerichtet ist und ich mein Geld für anderes einteilen kann. Außerdem bin ich kreativ, wenn es um neue Einnahmequellen geht. Und wenn es gar nicht mehr geht, würde ich mich auch an eine Supermarktkasse setzen.

Nie nein sagen

Uschi: Wenn dir eine alleinerziehende Mutter, die an der Armutsgrenze lebt, so zuhört, wie glatt alles funktioniert, muss sie sich schlecht fühlen, weil das bei ihr nicht so ist.

Annemarie: Ich wäre vielleicht auch an der Armutsgrenze, wenn ich bei ein paar Wegkreuzungen in eine andere Richtung gegangen wäre. Wenn ich meine Mentoren und Begleiter nicht gehabt hätte. Menschen, die mich unterstützt haben und mir mit ihrem Rat zur Seite gestanden sind.

Annemarie mit Kinderwagen

Uschi: War das Glück oder lag das an dir?

Annemarie: Beides. Ich bin auf andere zugegangen und habe immer ja gesagt, wenn ich ich eine Chance bekommen habe. Wenn mich jemand fragt, ob ich etwas tun möchte, mache ich es. Ich habe nie nein gesagt. Und ich hatte das Glück, dass ich die Chancen bekommen habe.

Uschi: Dir ist aber schon bewusst, wie schwer es viele Alleinerzieherinnen haben?

Annemarie: Ja, das ist fürchterlich. Ich finde zum Beispiel, dass eine Grundversorgung von Kindern gewährleistet sein müsste. Busfahrten oder Kindergartenbeitragskosten sind von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich geregelt, da gibt es große Unterschiede und das dürfte nicht sein. Es ist Wahnsinn, was Kinder kosten! Da müsste der Staat mehr Unterstützung geben. Ganz abgesehen davon, dass alleinerziehend zu sein, nicht nur finanziell schwer ist, sondern auch gesellschaftlich. Da wirst du schief angeschaut… speziell am Land sind die Leute in den tradierten Rollenbildern verhaftet.

Ehrgeiz klingt nach Geiz

2012, kurz vor ihrer ersten Schwangerschaft, wandte sich Annemarie der wissenschaftlichen Arbeit zu, hielt einige Lehrveranstaltungen an der Stiftungsfachhochschule München zu den Themen Pflegewissenschaft, Krankenhausorganisation und Qualitätsmanagement. Zur Zeit ist sie im Universitätsklinikum Linz (vormals AKH) in Karenz, ist aber in Nebentätigkeit an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg beschäftigt.

Uschi: Das war ein breiter Pfad von der Bürolehre beim Metzger bis zur wissenschaftlichen Lehre. Woher kam dieses Selbstbewusstsein?

Annemarie: Ich habe einfach Spaß daran gehabt. Wenn ich wieder eine Hürde genommen habe, dachte ich, dass die auch nur mit Wasser kochen. Und es ist für mich so etwas Lustvolles dabei.

Uschi: Ehrgeizig bist du auf jeden Fall. Woher kommt dieses Streben?

Annemarie: Das ist kein Ehrgeiz, das ist Lust am Arbeiten. An der PU habe ich einen Job, der mir wirklich Spaß macht. Zu Unterrichten ist keine Arbeit für mich. Ich kann jemandem etwas vermitteln, das taugt mir, das ist nicht anstrengend für mich.

Uschi: Du weichst aus, wenn ich dich danach frage, ob du ehrgeizig bist. Ist Ehrgeiz so etwas Schlimmes?

Annemarie: (…zögert) Ehrgeiz klingt für mich nach Geiz, klingt nach „auf etwas verzichten müssen“. Ich finde mich nicht ehrgeizig, sondern zielstrebig, zukunftsorientiert. Ehrgeiz ist für mich negativ behaftet.

Streben nach Karriere?

Uschi: Auch bei Auskünften zu deinem Streben nach Karriere bist du eher zurückhaltend. So als wäre es ehrenrührig, Karriere machen zu wollen.

Annemarie: Nein, das nicht, aber ich kannte und kenne meine Limits, bei mir hat sich dann auch vieles von selbst ergeben. Karriere bedeutet geplant vorzugehen, aber wenn ich das tue, dann gelingt es bei mir nicht, nur wenn ich loslasse, funktioniert es. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass bei einer Frau etwas Negatives mitschwingt, wenn sie sagt, sie will Karriere machen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Frauen, die unbedingt etwas wollen, nicht positiv gesehen werden.

Uschi: Aber das ist ja auch blöd, wenn du als Frau dieses Spiel mitspielst.

Annemarie: Ja, aber das ist so. Das Bild der Karrierefrau, die ganz zielstrebig nach vorne geht, ist in unserer Gesellschaft nicht akzeptiert. Ich bin zielstrebig, aber es darf nicht krampfhaft sein. Es kann auch sein, dass der Zeitpunkt für etwas nicht passt. Bei meiner Habililation war das so. Das hat nicht geklappt, aber ich habe gewartet und das Ziel nicht aus den Augen verloren. Jetzt will mein Chef an der Medizinischen Privatuniversität, dass ich meine Monografie für die Habil bald abgebe. Jetzt funktioniert es.

Annemarie

Uschi: Wie geht es jetzt weiter? Du bist noch in Teilzeitkarenz.

Annemarie: Jetzt geht es darum, dass ich meine Habil fertig mache, das ist der nächste sehr wichtige Schritt.

Aus nix etwas machen

Uschi: Was kannst du besonders gut?

Annemarie: (…zögert) Vielleicht aus nix etwas machen. Wenn in meinem Kühlschrank kaum etwas steht, kann ich trotzdem daraus ein fünfgängiges Menü machen.

Uschi: Du bist für mich in gewisser Weise schwer zu fassen. Dieses Wollen, diese Kraft, dieser gewisse Perfektionismus. Willst du die perfekte Frau sein?

Annemarie: Nein, aber ich habe einfach viel gelernt. Ich kann mir meine Kleidung selbst nähen, weil meine Tante, die Schneiderin war, mir das beigebracht hat. Genauso wie kochen.

Uschi: Gibt es irgendwas, was du nicht kannst?

Annemarie: Wenn es etwas gibt, dann lese ich mich ein und lerne. Beim Hausbauen zum Beispiel bin ich über sehr vieles gestolpert, was ich nicht gekonnt habe. Die Leute am Bau glauben ja, dass Frauen nicht bis zehn zählen können. Also habe ich mich informiert, denn sonst hätten die mich über den Tisch gezogen. Da musste ich schauen, wie der Hase läuft, denn in dieser Materie habe ich vieles nicht gewusst. Da bin ich angestanden und so etwas ärgert mich dann.

Uschi: Du bist bei der Gleichbehandlungskommission des Magistrats der Stadt Linz. Wie wichtig ist dir dieses Thema?

Annemarie: Gleichbehandlung ist mir sehr, sehr wichtig. Ich finde es ein Drama, wenn eine österreichische Frau immer noch weniger für die gleiche Arbeit bekommt wie ein Mann. Überhaupt nervt mich Ungleichbehandlung. Bleiben wir bei der Baubranche. Da wird man als Frau nicht ernst genommen. Oder als es um die Finanzierung des Hauses gegangen ist, da wird gleich gefragt, warum es da keinen Partner gibt, der unterstützt, warum ich das als Frau alleine mache. Dass man sich diesen Fragen überhaupt noch stellen muss, stört mich sehr. Und als Frau mit Kindern wird man gleich noch einmal mehr diskriminiert. Ich habe großes Glück mit meinem Chef, der ist super, aber in anderen Branchen werden Frauen und Familien nicht gefördert.

Uschi: Was kann dich aus der Ruhe bringen?

Annemarie: Wenn mich jemand verarschen will, vor allem Männer. Wenn mich jemand über den Tisch ziehen will, dann werde ich narrisch (…lacht).

Das Gespräch wurde am 28. September 2016 in Altenberg bei Linz geführt.