Seit zwanzig Jahren arbeitet sie in Krisengebieten in der ganzen Welt. Zur Zeit ist sie im Nordirak im Einsatz. Sie hat gelernt mit der Angst zu leben, weiß, wie brutal Überlebenskampf sein kann und dass ein gutes Herz allein zu wenig ist, wenn man helfen will. Bei der Erdbebenkatastrophe in Haiti kam sie selbst an ihre Grenzen.


Disziplin

Uschi: Du arbeitest seit zwanzig Jahren in vielen Krisengebieten der Welt. Hast für verschiedene Organisationen in Ländern wie Pakistan, Laos, Nigeria, Nordkorea oder Haiti gearbeitet. Das verlangt einer Frau schon einiges ab. Du bist hart im Nehmen.

Regina: Ja, ich denke, dass ich ziemlich hart im Nehmen bin. Ich muss auf einiges verzichten, aber ich bekomme auch viel. Ich lerne Menschen kennen, fremde Kulturen. Aber ich zahle auch einen Preis dafür. Es ist zum Beispiel schwierig, eine Familie zu haben.

Regina

Uschi: In die Wiege gelegt wurde dir dieser Lebenslauf ja nicht. Dein Vater war Bühnenarbeiter, deine Mutter Friseurin, du hast eine Sporthauptschule und eine Handelsschule besucht. Was hast du von deinen Eltern mitbekommen, das so einen Lebensweg befördert hat?

Regina: Mir hat sehr viel geholfen, dass ich früh zum Sport erzogen worden bin und dadurch Disziplin gelernt habe. Sport liegt mir, mein Spektrum ist sehr breit, von Turnen über rhythmische Sportgymnastik bis zum Klettern. Ich bin ausgebildete Schilehrerin, bin Wildwasser gepaddelt und habe den Sonderpilotenschein für Paragleiten. Dadurch habe ich gelernt durchzuhalten und an meine Grenzen zu gehen. Und das gibt mir Vertrauen. Ich weiß, dass ich bestehen kann, wenn es darauf ankommt und das hat mich geprägt.

Geprägt wurde Regina auch durch ihre spezielle Familiensituation.

Regina: Meine Mutter hatte es nicht leicht, vor allem, was meinen Vater betrifft. Und weil ich einen sehr schwierigen Vater hatte, der mich eher als Übel denn als Wunschkind gesehen hat, bin ich bald selbständig geworden. Weil ich Einzelkind war, habe ich gelernt alleine zu sein, was gerade bei Auslandseinsätzen sehr wichtig ist, um nicht an Einsamkeit zu zerbrechen. Das Kämpferische und das Durchhaltevermögen hat mir meine Mutter beigebracht.

Regina Tauschek

Geboren 1966 in Linz, Oberösterreich

1991 - 1997 Studium im zweiten Bildungsweg an der Johannes Kepler Universität Linz

1997 Doktorin der Sozial-und Wirtschaftswissenschaften

Ab 1997 Auslandseinsätze für Organisationen, wie UNICEF, OSZE, ODIHR, Rotes Kreuz, EU (Wahlbeobachtung), Welthungerhilfe

Einsatzorte: Kroatien, Tajikistan, Kosovo, Indien, Sierra Leone, Pakistan, Nigeria, Laos, Myanmar, Nordkorea, Haiti, Mali, Zentralafrikanische Republik, China

Seit 2016 im Nordirak für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ)

Etwas Sinnvolles tun

Regina arbeitete nach der Handelsschule als Sekretärin, legte die Studienberechtigungsprüfung ab und studierte dann sehr schnell Soziologie und promovierte in Sozial-und Wirtschaftswissenschaften.

Uschi: Warum hast du nicht gleich als Jugendliche maturiert und studiert?

Regina: Ich habe eine schwierige Pubertät gehabt und da hatte ich das Lernen noch nicht entdeckt. So wie ich im Leben überhaupt oft Umwege mache.

Regina am Schreibtisch

Der nächste Umweg führte Regina im Rahmen eines Erasmusstudiums nach England. Ihre Dissertation schrieb sie, unmittelbar nach Ende des Bosnienkrieges, in Sarajevo, das noch in Trümmern lag. Ihr damaliger Freund arbeitete dort für die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) und wurde dann nach Kroatien versetzt.

Regina: Bei den regelmäßigen Zusammenkünften damals erzählten die Kollegen meines Freundes sehr spannend über ihre Arbeit, und da kam mir meine Dissertation über Jugendarbeitslosigkeit in Großbritannien und Österreich unwichtig vor. Ich wollte einen Beitrag leisten, ich wollte dazu gehören und etwas Sinnvolles tun.

Regina begann, von der serbischen Enklave Knin Hilfspakete ins dalmatische Hinterland auszufahren.

Regina: Damit war ich Teil der Gemeinschaft und habe Einblicke bekommen, was diese Nachkriegszeit für die Menschen dort bedeutet hat. Ich habe gesehen, was Menschen erleiden und aushalten müssen und können. Der Lebenswille mancher Menschen hat mich beeindruckt. Zum Beispiel ein Ehepaar, sie 92, er 94, das seit Monaten im Schafstall neben dem ausgebombten Haus lebte. Die beiden waren zu schwach um zu flüchten und wir waren die ersten, die nach dem Winter mit Hilfspaketen in dieses Gebiet gekommen sind und da wusste ich: So etwas möchte ich machen.

Umgang mit der Angst

Ihr erster richtiger Einsatz für die OSZE führte Regina, gemeinsam mit ihrem Ehemann (sie hatte ihren Freund inzwischen geheiratet), nach Tajikistan.

Regina: Ich kam dort einige Tage früher als mein Mann an. Tajikistan war damals sehr gefährlich. In der ersten Nacht war ich allein im Hotel, man hat mir ein Funkgerät in die Hand gedrückt und draußen auf der Straße tobten heftige Kämpfe. Ich hatte Angst, dass sich eine Kugel durch das Fenster verirren und mich treffen könnte. Dann habe ich mir ausgerechnet, dass ich im Badezimmer sicherer wäre und bin vom Bett in die Badewanne übersiedelt.

Uschi: Ist Angst dein ständiger Begleiter auf deinen Einsätzen?

Regina: Man lernt mit Angst umzugehen. Je besser man ein Land kennt, je mehr man sich mit Konflikten beschäftigt, desto besser kann man Situationen einschätzen. Mir ist es immer wichtig, einen Konflikt zu verstehen. Mit der Zeit entwickelt man ein Gefühl, wo man besonders aufpassen muss, wo man hingehen kann und wohin besser nicht. Man kann natürlich nie ganz sicher sein, aber ich verhalte mich jetzt ganz anders, als jemand, der völlig neu in diesem Geschäft ist.

Lügen und ein gutes Herz

Reginas Aufgabe war anfangs die Administration. Dazu gehörten Personalwesen, Finanzwesen, die Beschaffung von Computern, Schreibmaterial und Essen für die Mission. Administration ist zentral bei einem Auslandseinsatz, trotzdem wollte Regina sich bald verändern.

Regina: Mein Mann war eine zentrale Figur in den obersten Führungspositionen. Bei ihm ging es immer um die großen Themen wie Friedensverhandlungen oder den Aufbau eines Rechtsstaates. Dazu konnte ich nichts beitragen und ich habe mich ein wenig als Anhängsel gefühlt. Ich wollte mehr inhaltlich arbeiten.

Regina begann sich auf humanitäre Hilfe zu konzentrieren. Bei dieser Arbeit, zum Beispiel für die Welthungerhilfe, konnte sie ihr Organisationstalent einsetzen.

Regina: Nach Katastrophen etwa müssen Menschen mit den Notwendigsten versorgt werden. Da geht es um Überlebenshilfe und um den Wiederaufbau von Gebäuden und Infrastrukturen nach einem Erdbeben oder einem Krieg. Da hatte ich dann wesentlich mehr mit Menschen zu tun, was mir vorher gefehlt hatte. Friedensverträge zum Beispiel werden ja nicht mit der Bevölkerung ausgehandelt, sondern auf einer sehr hohen Ebene. Ich wollte aber direkt mit der Bevölkerung arbeiten.

Regina mit Reiseerinnerungen

Regina ging mit dem Roten Kreuz in den Kosovo, um dort Häuser aufzubauen.

Regina: Ich musste herausfinden, wer wirklich bedürftig war und wer sich nur als bedürftig darstellte. Da schickt man vielleicht jemanden vor, dem ein Fuß fehlt, aber der möglicherweise ohnehin finanziell gut versorgt ist. Ich fand es sehr schön, mit den Menschen zu tun zu haben. Aber ich habe realisiert, dass man es auch mit Korruption zu tun hat. Wenn Hilfsgüter verteilt werden, dann will jeder das Maximum haben, das wäre bei uns auch so. Man wird immer wieder mit Lügen konfrontiert. Man muss erkennen, wie die verschiedenen Netzwerke funktionieren, wer ehrlich ist und wer nicht.

Uschi: Hat das dein Menschenbild verändert? Oder warst du nie so naiv?

Regina: (…lacht) Nein ich war nie so naiv. Aber wenn ich zum Beispiel junge Menschen für so eine Tätigkeit motivieren will, möchte ich ihnen vermitteln, dass sehr viel mehr als nur ein gutes Herz dazu gehört. Nur helfen zu wollen, ist zu wenig. Man muss sehr realistisch sein. Man muss wissen, dass man auch über den Tisch gezogen wird. Wenn das Geld nur für die Bedürftigsten reicht, muss man genaue Richtlinien aufstellen. Herauszufinden, wem ein Stück vom Kuchen zusteht, ist eine Herausforderung.

Alltag in Nordkorea und Mali

Uschi: Die Einsätze in den ersten Jahren waren oft Kurzzeiteinsätze von ein oder zwei Monaten. Das ist sicher schwierig, denn da musstest du dich immer neu auf ein Land einstellen.

Regina: Das war zwar unglaublich spannend, weil ich so viele Länder kennen gelernt habe. Aber es war schon anstrengend, immer im Hotel zu leben und achtzig und mehr Stunden in der Woche zu arbeiten. Sobald ich Erfahrung hatte, wurde ich nicht mehr in die Hauptstädte, sondern in die schwierigsten Gebiete ins Feld gesendet. Da waren die Lebensbedingungen oft sehr einfach und manchmal hatte ich nicht mehr als eine Pritsche. Speziell bei Wahlbeobachtungen passierte es immer wieder, dass ich die ganze Nacht durchgearbeitet habe. Diese Einsätze waren sehr, sehr intensiv. Ich wusste, dass ich das nicht ewig durchhalten würde.

Regina mit Frauen in Timbuktu

Später spezialisierte sich Regina auf die Leitung von Nothilfeprojekten, die zwischen sechs und zwölf Monaten dauern. Bei diesen längeren Einsätzen lebt sie nicht im Hotel, sondern mietet eine Wohnung oder ein Haus und führt eine Art von Alltagsleben.

Regina: Ich gehe einkaufen und zum Markt, treffe mich mit Nachbarn und gestalte mir ein Freizeitprogramm. Obwohl vor allem Nothilfeprojekte sehr zeitintensiv sind, versuche ich mir wenigstens einen Tag pro Woche frei zu halten.

Uschi: Und dann sitzt du da am Wochenende. Ohne Freunde, ganz allein.

Regina: Freundschaften schließe ich immer wieder mit der lokalen Bevölkerung. Außerdem gibt es ja oft auch andere Menschen, die für internationale Organisationen arbeiten. Sobald es eine UN im Umkreis gibt, werden zum Beispiel Grillabende veranstaltet, in Nordkorea gab es Leseabende, in Mali sorgte das Institut Français für ein Kulturprogramm. In Haiti war es zwar gefährlich, aber es gab schöne und sehr gute Restaurants und Tanzbars. Man muss sich nur umhören und sich interessieren. Ich beschäftige mich auch immer mit der Kultur des Landes.

Zwischen den Einsätzen

Der Verdienst für Auslandseinsätze ist sehr unterschiedlich. Abhängig von Aufgabe, Organisation und Einsatzland wird sehr schlecht oder sehr gut bezahlt. Bei NGOs oder Organisationen, die von Spenden finanziert werden, ist der Verdienst nicht groß. Zum Teil gibt es für eine verantwortungsvolle Projektleitung nur zweitausend Euro brutto. Arbeitet man in einer Führungsposition für die UN, gibt es hingegen wirklich sehr gute Verdienstmöglichkeiten.

Uschi: Wenn ein Einsatz zu Ende ist, - wird man dann angefragt, oder ist es schwierig neue Einsatzmöglichkeiten zu finden?

Regina: Wenn man mit einem Job fertig ist, gibt es meist gleich Angebote. Aber nach einiger Zeit muss man dann schauen, dass man nicht in Vergessenheit gerät. Das hat mir am Anfang Stress gemacht. Heute ist das anders, weil ich so viel Erfahrung habe, dass ich jederzeit einen Job bekomme.

Uschi: Wie lange sind die Pausen zwischen den Einsätzen?

Regina: Ich war nie fix bei einer Organisation und habe dazwischen immer wieder lange Pausen gehabt. Mit meinem früheren Mann, der ja den gleichen Beruf hatte, bin ich dann immer ein paar Monate mit dem Campingbus herumgefahren. Diese Pausen braucht man auch. Sonst hält man das nicht aus. Das ist dann der Luxus. Zumindest wenn man keine Verpflichtungen, keine Kinder hat, so wie ich. Ich kann vom Ersparten einige Monate leben und nichts tun.

Flugangst und Extremsport

Regina ist beruflich relativ viel mit dem Flugzeug unterwegs. Bei ihrem ersten Flug entdeckte sie, dass sie heftige Flugangst hatte. Doch fand sie eine recht unkonventionelle Art diese zu bekämpfen.

Regina: Ich hatte schreckliche Angst und habe diese Furcht ganz schlimm gefunden. Dann habe ich mir gedacht, ich könnte das nur damit bekämpfen, dass ich mich mit dem Thema Fliegen beschäftige. Deshalb habe ich den Sonderpilotenschein für Paragleiten gemacht. Da besuchte ich eine Woche einen Theoriekurs und danach habe ich besser verstanden, warum ein Flugzeug fliegt. Dass ich selbst meinen Paragleiter steuern konnte, hat mir Vertrauen gegeben. Große Maschinen, die gut gewartet sind, sind für mich kein Problem mehr, Flüge mit kleineren Flugzeugen mag ich noch immer nicht.

Uschi: Du bist sehr sportlich. Du warst eine gute Turnerin, hast Gymnastik gemacht, warst eine sehr gute Kletterin. Was treibt dich da?

Regina: Ich bin ein Mensch, der Bewegung braucht. Und da ist auch eine gewisse Abenteuerlust. Ich wollte einfach etwas ausprobieren, etwas anderes machen, als alle anderen.

Uschi: Diesbezüglich bist du ein wenig ruhiger geworden.

Regina: Alles im Leben hat seine Zeit. Meine Einsätze sind anspruchsvoller geworden, die Einsatzländer schwieriger, der Aufgabenbereich verantwortungsvoller, wie zuletzt in Nordmali, wo es wirklich gefährlich war. Ich fühle mich ja auch für die Mitarbeiter verantwortlich, wenn etwas passiert. Das bedeutet einfach Anspannung und wenn der Stress im Job schon so groß ist, dann brauche ich eigentlich keinen Stress bei Extremsportarten mehr. Beim Paragleiten zum Beispiel ist mir einmal der Schirm eingeklappt. Das war ein Überlebenskampf und so etwas stecke ich nicht einfach so weg. Diesen Stress im Urlaub brauche ich nicht und jünger werde ich auch nicht.

Beziehung und Beruf

Mit Vierzig versuchte es Regina mit einer neuen Sportart.

Regina: Ich war in Haiti und habe nach einer Freizeitbeschäftigung gesucht. So bin ich zum Tanzen gekommen. Ich war begeistert, weil das so toll ausgeschaut hat, das war so elegant und ästhetisch. Ich habe dann ernsthaft Unterricht genommen und viel geübt.

Regina tanzt

Beim Tanzen lernte Regina einen Tänzer kennen, den sie später heiratete und der zur Zeit bei ihr in Österreich lebt. Das Paar entwickelte in Österreich eine karibische Tanzshow und trat etliche Male öffentlich auf.

Uschi: Beziehungen und dein Beruf - das ist vermutlich eine schwierige Kombination.

Regina: Beziehungen sind eine Herausforderung, Zum einen weil man sich lange Zeit nicht sieht, zum zweiten, weil sich der Partner ständig Sorgen macht, wenn man in einem Krisengebiet ist. Das ist leichter, wenn der Partner auch in diesem Berufsfeld arbeitet. Sehr viele Ehen zerbrechen an diesem Job. Bei langfristigen Einsätzen ist das leichter. Manche Kollegen, die einige Jahre in einem Land sind, nehmen die Familie mit. Mit meinem ersten Mann ging das gut, weil wir ja in den - oft Monate langen - Pausen zusammen waren.

Uschi: Trotzdem ging die Beziehung auseinander.

Regina: Ja, aber das ist weniger an unserem Beruf gelegen, als mehr an den Freizeitinteressen, die sich auseinander entwickelt haben. Mir wurde sein Outdoorprogramm zu stressig, ich wollte es ruhiger haben. Wollte richtige Pausen, die nicht von Klettern, Wildwasserpaddeln und Paragleiten bestimmt sind.

.....und außerdem:

Entspannung: Bis zum Erdbeben war Tanzen für mich ein schöner Ausgleich. Mein neues Hobby ist Fotografieren. Ich habe mir eine Spiegelreflexkamera besorgt und es kann passieren, dass ich in eine fremde Stadt fahre und diese Stadt einfach niederknipse. Dann bin ich ganz selig, wenn ich aus diesen vielen Fotos die schönsten heraussuche.

Gesundheit: Ich lebe sehr gesund, rauche nicht, trinke nicht, mache regelmäßig Gesundheitschecks und fühle mich ausreichend gesund für weitere Auslandseinsätze.

Als Frau im Einsatz: Wenn man in männerdominierten Gesellschaften als westliche Frau auftritt, hat man fast den Status eines Mannes. Wenn man, so wie ich, für eine internationale Organisation arbeitet, dann wird man ernst genommen.

Die Katastrophe

Im Jänner 2010 lebte Regina schon drei Jahre in Haiti und stand kurz davor, das Land zu verlassen. Als das weltweit verheerendste Erdbeben des 21. Jahrhunderts einsetzte, arbeitete sie noch im Büro. Wäre sie in ihrem Apartment im Hotel gewesen, hätte sie keine Überlebenschance gehabt.

Regina: Ich bin hinausgelaufen. Total geschockt. Mir hat es im wahrsten Sinn des Wortes den Boden unter den Füßen weggerissen. Ich war noch nie in einer Situation gewesen, in der ich keinen Ausweg sah. Das war ein schlimmer Moment. Es war alles in Trümmern. Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte.

Regina versuchte sich mit einer Kollegin zu ihrem Hotel durchzuschlagen. Überall lagen Verwundete und Tote auf den Straßen. Vom Hotel waren nur mehr Trümmer übrig.

Regina: Ich habe bei dem Erdbeben sehr viele Bekannte verloren. Ich war ja zu diesem Zeitpunkt schon drei Jahre lang in Haiti, hatte sehr viele persönliche Sachen vor Ort und mir ein Apartment eingerichtet. Dort hatte ich sehr viele Erinnerungen aus anderen Ländern, viele Fotos. Alles war weg. Meine Computer, die Festplatten und damit auch alle Fotos der letzten Jahre.

Als Regina erkannte, dass sie nichts mehr besaß, kehrte sie in ihr Büro zurück.

Regina: Ich dachte mir, die nächsten Tage würde es um humanitäre Hilfe gehen und sehr stressig werden. Bis vier Uhr früh habe ich alle Mails am Computer im Büro aufgearbeitet und den Finanzabschluss erledigt, weil ich wusste, dass ich in der nächsten Zeit nicht mehr dazukommen würde. Dann habe ich im Auto ein wenig geschlafen. Im Büro wollte ich aus Angst vor Nachbeben nicht bleiben.

Regina nach dem Erdbeben in Haiti

Uschi: Wie ging es dir in diesen ersten Tagen?

Regina: Es gab in der ersten Zeit sehr viele Journalistenanfragen. Da ich das Erdbeben miterlebt hatte und im Büro eine funktionierende Telefonleitung hatte, habe ich unheimlich viele Interviews gegeben. Allein am ersten Tag vierundzwanzig Interviews, vom „Spiegel“ bis zum ORF. Da musste ich ständig alles erzählen und das war eine Art Aufarbeitung.

Uschi: Warst du traumatisiert?

Regina: Vom Erdbeben nicht, aber von dem, was mir später passierte.

Nach zehn Tagen reiste Regina mit einem Notpass und etwas Geld, das sie bekommen hatte, nach Santo Domingo, um dort Kleidung und Schuhe zu kaufen, da sie nichts mehr besaß.

Regina: Dort bin ich überfallen worden. Das war dann wirklich sehr schlimm. Meine Tasche mit dem Notpass, dem ganzen Geld und einem Handy war weg. Das habe ich so ungerecht gefunden. Nach dem Erdbeben noch so etwas zu erleben. Bei einer psychologischen Betreuung, die ich dann später bekommen habe, hat sich gezeigt, dass mir der Überfall mehr als das Erdbeben zugesetzt hat.

Brutaler Überlebenskampf

Trotzdem ist Regina in Haiti geblieben und hat weiter mit ihrem Team gearbeitet. Ein Drittel der Bevölkerung Haitis war von der Naturkatastrophe betroffen. Viele Österreicher boten ihre Unterstützung an, aber Regina brauchte die Hilfe von Experten, die zum Beispiel Verteilungsaktionen, die immer wieder von Banditen überfallen wurden, organisieren konnten.

Regina: Da muss man etwas von der Sache verstehen, denn die Verteilung von Hilfspaketen erledige ich lieber mit der lokalen Bevölkerung. Ich muss ja die Menschen vor Ort einbinden, damit sie eine Aufgabe haben und Geld verdienen. Wer helfen will, muss die Sprache können und ein Grundverständnis für die Landeskultur haben. Das Gefängnis war damals eingestürzt, da sind Verbrecher herumgelaufen. Unmittelbar nach dem Erdbeben gingen die Plünderungen los, da wurden Menschen auf der Straße gelyncht und verbrannt. Bei solchen Katastrophen geht es für jeden einzelnen ums Überleben. Da holen sich die Menschen, was sie brauchen. Da geht es nicht nur fein her. Das ist oft sehr brutal.

Regina fotografiert

Uschi: Wie hältst du das aus?

Regina: (…zögert) Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wie man das aushält. Ich bin auch schon manchmal vor mir selbst erschrocken. Als ich einmal mit dem Fahrer unterwegs war, liegt da eine Leiche auf der Straße, und ich sage zu ihm: „Pass auf und weiche aus, damit du da nicht drüberfährst.“ So wie man das auch sagen würde, wenn da ein Hund liegt und man sagt, „fahr nicht drüber“. Da bin ich wirklich über mich selbst erschrocken. Eine Psychologin hat mir später gesagt, das ist normal in solchen Extremsituationen, wenn einem so etwas wenigstens auffällt.

In dieser Zeit konnte Regina auf ihre Erfahrung in der Organisation zurückgreifen, wenn es darum ging, Trinkwasser zu organisieren, die Toiletten funktionsfähig zu machen, die Infrastruktur am Laufen zu halten oder Transporte vor Überfällen zu schützen.

Uschi: Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen haben damals ihr gesamtes Personal vor Ort abgezogen und ausgewechselt. Nach dem Schock des Erdbebens war die Belastung für die Hilfskräfte groß. Würdest du es noch einmal so machen? Würdest du wieder bleiben?

Regina: Ja, ich würde wieder bleiben. ….. Es kommt in so einem Fall darauf an, wie sehr man mit dem Land und mit den Menschen verbunden ist.

Uschi: Warum war für dich das Leben in Haiti so besonders?

Regina: Ich hatte mich dort, noch vor dem Erdbeben, von einem Teil meines Lebens verabschiedet. Meine Beziehung zu meinem Mann war auseinandergegangen, ich hatte mir eine neue Perspektive geschaffen, das Tanzen entdeckt. Zum ersten Mal hatte ich darauf geachtet, ein wenig besser zu leben. Ich hatte es mir davor im Ausland noch nie so nett eingerichtet. Und darum war es für mich so schmerzhaft, dass ich dort durch das Erdbeben alles verloren habe. Ich habe damit irgendwie meine neue Perspektive fürs Leben verloren. Meine Tanzpartner sind gestorben, die Tanzlokale waren zerstört, es war plötzlich nichts mehr, wie es vorher war.

Uschi: Du erzählst generell sehr lebendig, aber bei diesem Teil des Gesprächs habe ich bemerkt, dass du wesentlich emotionaler sprichst, als davor.

Regina: Ja, es war ein großer Einschnitt, der viel Veränderung gebracht hat.

Uschi: … und auch Trauer.

Regina: Ja..……… ja.

Jede Kultur ist spannend

Uschi: Inwieweit hat dein Beruf dein Denken, deine Einstellung zum Leben geprägt?

Regina: Im Hinblick auf Toleranz und Respekt gegenüber anderen Kulturen hat er mich sicher sehr geprägt. Ich arbeite in verschiedenen Ländern oft mit Menschen zusammen, deren Bildungsstand ein geringer ist, die zum Beispiel nie in der Schule waren. Ich habe dabei erfahren, dass man von diesen Leuten viel lernen kann. Hätte ich das nicht erlebt, würde ich das nicht als Selbstverständlichkeit nehmen. Ich bin zum Beispiel entsetzt, wenn ich sehe, wie Menschen hier in Österreich Angst im Umgang mit Fremden haben. Gerade jetzt schreckt mich die Angst, die sich mobilisieren lässt, wenn es um Flüchtlinge geht.

Regina in Dohuk Kurdistan

Uschi: Machst du einen Unterschied zwischen fremden Kulturen? Ist dir eine sympathischer und eine andere weniger?

Regina: Es gibt Kulturen, in denen ich mich leichter zurechtfinde, aber es gibt keine Kultur, in der ich nicht auch etwas Spannendes gefunden hätte. In jeder Kultur, in jeder Gesellschaft finde ich etwas, das mich interessiert. Das kann Musik sein, das Essen, der Umgang miteinander, ich finde überall etwas.

Uschi: Aber du wirst ja auch Abstoßendes finden.

Regina: Ja, das kann sein, aber es gab für mich bisher noch kein Land, in dem alles schlecht war. Ich finde in jedem Land etwas Positives, auch wenn das politische System für mich völlig abstoßend ist. Zum Beispiel Nordkorea. Das ist das Land, dem ich bis jetzt am wenigsten abgewinnen konnte, aber ich habe dort eine sehr nette Schneiderin kennengelernt, die mir in positiver Erinnerung gebelieben ist. Oder in Myanmar. Dort war ich zu einer Zeit, als Aung San Suu Kyi noch unter Hausarrest war. Das System dort war abstoßend, ich musste mit Hardlinern diskutieren, die ich nicht ins Herz schließen konnte, aber ich habe in Myanmar ein wunderbares Team gehabt und ich habe dort wunderschöne Tempel gesehen. Grundsätzlich bin ich ein Mensch, der nach dem Interessanten sucht und dadurch ist mir jeder Einsatz in guter Erinnerung.

Im Nordirak

Uschi: Du bist im Laufe der Jahre mit viel Elend konfrontiert worden? Empfindest du das als sehr belastend?

Regina: Nein. Ich weiß auch nicht, warum, ich glaube es ist einfach die Arbeit, die mir einen praktischen Zugang vermittelt und ich weiß, dass es vieles gibt, was ich nicht aus meinem Kulturkreis heraus bewerten darf. Was mir schon nahe geht, sind oft einzelne Schicksale. Da sind oft herzzerreißende Geschichten dabei. Aber im Gesamten komme ich ja dorthin, um die Situation einzelner zu verbessern. Wir kommen überall hin, um Menschen aus ihrem Elend herauszuholen.

Regina in Kurdistan

Bis April 2019 wird Regina im Auftrag der GIZ (Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) im Nordirak bleiben. Sie arbeitet an einem Projekt zur Verbesserung der Lebenssituation von Binnenvertriebenen und Flüchtlingen und ist dort zum ersten Mal für Public Relations zuständig.

Regina: Das hat sich zufällig so ergeben. Die deutsche Bundesregierung investiert dort viel Geld und das bewirkt hohe mediale Aufmerksamkeit. Viele Besucher, darunter Minister, Staatssekretäre und Journalisten kommen und müssen betreut und informiert werden. Das ist eine meiner Aufgaben. Um diese Arbeit leisten zu können, muss ich die einzelnen Projekte gut kennen. Deswegen bin ich wieder an der Basis unterwegs. Insofern habe ich auch weiterhin direkt mit der Bevölkerung zu tun und deshalb fühle ich mich auch in dieser neuen Funktion sehr wohl.

Uschi: Erbil, beziehungsweise Dohuk, wo du lebst und arbeitest, liegt in der Autonomen Region Kurdistan. Das ist nur achtzig Kilometer von der umkämpften Stadt Mossul entfernt. Die Leute des IS sind also nicht weit. Damit bist du wieder nahe an der Gefahr. Wie geht es dir damit?

Regina: Ja stimmt. Mossul ist nicht weit weg. Es ist tatsächlich kaum vorstellbar, dass achtzig Kilometer entfernt Menschen vom IS abgeschlachtet wurden, und dass jetzt die Stadt heftig umkämpft ist. Trotzdem fühle ich mich sowohl in Dohuk als auch in Erbil sehr sicher. In den Städten kann ich mich frei bewegen. Das konnte ich nicht immer, wo ich bisher gearbeitet habe.  Ich hoffe natürlich, dass es in Zukunft so bleibt. Die Kurden sind sehr nett und gastfreundlich. Ich fühle mich hier wohl. Aber natürlich ist mir bewusst, dass sich die Situation schnell ändern kann. Neben Mosul gibt es noch einige andere Konfliktherde, und es ist natürlich eine Illusion anzunehmen, dass mit der Befreiung Mossuls der IS im Irak besiegt ist und die Probleme gelöst sind. Ich vertraue auf meine Erfahrung und mein Gefühl, zu wissen, wann es Zeit ist zu gehen.

Uschi: Und wie wird es danach weitergehen?

Regina: Ich habe überlegt, in Österreich wieder Fuß zu fassen, habe aber keinen Job gefunden, da meine Qualifizierung in Österreich offenbar nicht gebraucht wird. Jetzt habe ich ein so gutes Angebot von der GIZ bekommen, dass damit die Entscheidung für die nächsten zehn Jahre gefallen ist. Ich werde weiter im Ausland bleiben.

Das Gespräch wurde am 27. Dezember 2016 in Linz geführt.