In unserem letzten Gespräch vor zwölf Jahren war Sylvia in einem Verlag beschäftigt. Jetzt ist sie in Pension und arbeitet ehrenamtlich für Amnesty International, weil die Menschenrechte in ihrem Leben schon immer enorm wichtig waren und sind. Durch den Tod ihres Lebenspartners hat sie gelernt mit Schmerzen umzugehen und sich selbst gegenüber aufmerksam zu sein. In diesem Interview erzählt sie auch, warum es auf einer Reise in Grönland eine Herausforderung sein kann, aufs Klo zu gehen, warum Musik für sie unverzichtbar ist und warum sie nachts vor allem Popsongs hört.

Hier geht es zum ersten Interview, das wir geführt haben: Gespräch 2013 Link


ich komme gut mit mir zurecht

Uschi: Wir sitzen in deiner ziemlich großen Küche und haben gerade wunderbares Paprikahenderl gegessen, das du extra gemacht hast, was ich sehr würdige. Du kochst auch für dich allein aufwendig. Nicht, weil es jetzt in Mode ist, sondern schon immer.

Sylvia: Ja, vor allem dann, wenn ich etwas ausprobieren möchte. Auch für mich allein. Es ist vielleicht ein Zeichen von eigener Wertschätzung. Ich bin es mir wert, Zeit für mich zu investieren. Außerdem finde ich es gut, zu wissen, was im Essen drinnen ist. Kochen entspannt mich. Das hängt natürlich damit zusammen, dass ich nicht kochen muss, nichts planen muss und frei in meinen Entscheidungen bin.

Uschi: Du magst es, Speisen hübsch anzurichten. Auch das für dich allein.

Sylvia: Wenn es sich zum Beispiel Silvester oder Weihnachten ergibt, dass ich alleine bin, mache ich das gerne. Da ich auch beim Kochen für Freundinnen und Freunde, die ich mag, darauf achte, dass alles schön aussieht, würde ich es seltsam finden, mir das selbst nicht zu gönnen. Ich komme ja gut zurecht mit mir, bin schon immer gut ausgekommen mit mir (lacht). Manchmal mehr, manchmal weniger, aber ich glaube schon, dass es etwas damit zu tun hat.


Sylvia kocht
Sylvia kocht

menschenrechte weder links noch rechts

Uschi: DAS große Thema in deinem Leben sind Menschenrechte. Du engagierst dich seit 1993 bei Amnesty International. Seit 3 Jahren bist du im Präsidium und seit einem Jahr Präsidentin von Amnesty Österreich. Wie geht es dir ganz persönlich zur Zeit? Mit den Kriegen in der Ukraine, in Gaza und zuletzt im Iran?

Sylvia: Es macht mich sehr betroffen. Wir dachten ja immer, dass es vorwärts geht, vielleicht mit kleineren Rückschritten, aber grundsätzlich doch. Die Geschwindigkeit, in der jetzt vieles in Frage gestellt wird, macht mir Sorgen. Dass Menschenrechte auch von Staaten, die diese Werte immer eher hochgehalten haben, relativiert werden, weil die Situation schwierig ist, bedrückt mich. Eigentlich sind die Menschenrechte genau für solche Zeiten vereinbart worden.

Uschi: Amnesty selbst ist in der letzten Zeit in Kritik geraten. Besonders laut ist die Kritik seit 2022, seit einem Apartheitsvorwurf, den AI gegen Israel erhoben hatte. Und kurz darauf hatte Amnesty der Ukraine vorgeworfen, sie verletze humanitäres Völkerrecht und das mit den Verletzungen verglichen, die Russland begangen habe.
Einiges, das Amnesty in den letzten Jahren und Monaten verlauten ließ, erscheint zumindest nicht besonders geschickt. Es ist klar, dass du jetzt und hier keine Interna verbreiten wirst, aber wird intern über so etwas diskutiert?

Sylvia: Auf jeden Fall. Wichtig ist zu sehen, dass Amnesty das Geschehen immer aus der Perspektive der Menschenrechte betrachtet. Das muss sich nicht unbedingt immer mit gesellschaftspolitischen Meinungen decken. Unsere Grundlage sind die internationalen Rechte und Normen, zum Beispiel die UN-Völkermordkonvention.

Uschi: Amnesty galt in unserer Jugend als linkslastig - jetzt kommen viele Angriffe von links.

Sylvia: Kritik gibt es immer, aus unterschiedlichen Richtungen. Das sehe ich eigentlich als ein Beweis für die Unabhängigkeit von AI. Menschenrechte sind weder links noch rechts. Menschenrechte gelten nicht nur für Menschen, die uns sympathisch sind, sondern für alle. Selbst für die ärgsten Verbrecher gelten die Menschenrechte. Darum sind wir gegen die Todesstrafe, darum kämpfen wir in jedem Fall für ein faires Verfahren und menschenwürdige Haftbedingungen zum Beispiel.


Sylvia am Amnesty-Stand
Sylvia am Amnesty-Stand

Uschi: Es wird vieles in Frage gestellt. Nicht nur Politiker und Politikerinnen, die weit rechts stehen, fordern ein Überdenken, ein Überarbeiten der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Nun könnte man ja tatsächlich sagen, dass seit der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 77 Jahre vergangen sind. Seitdem hat sich gesellschaftspolitisch viel getan. Ist es unmöglich, darüber nachzudenken, ob man das nicht anpassen könnte?

Sylvia steht auf, geht ins Nebenzimmer und bringt ein dünnes, rotes Büchlein mit.

Sylvia: Das ist „Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“. Artikel 1: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Dieser Satz steht zwar so nicht wortwörtlich in der österreichischen Verfassung, aber die Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) wurde in Österreich als Basis für das Handeln in das Verfassungsrecht übernommen, wie auch die Europäischen Menschenrechtskonvention, die in Österreich Verfassungsrang hat.

Uschi: Mir geht es aber ums Prinzip. Eine Verfassung könnte man ändern.

Sylvia: Ja, aber wollen wir das Recht auf Leben und Freiheit ändern? Wollen wir das Verbot der Diskriminierung abschaffen? Das bedeutet nicht, dass sich unsere Menschenrechte nicht weiterentwickeln sollen. Es gibt neue Herausforderungen wie Digitalisierung und Klimawandel. Aber vom Fokus, die Rechte aller Menschen zu verwirklichen und zu stärken, dürfen wir nicht abrücken.

Uschi: Es gibt die Möglichkeit, Menschenrechte unter bestimmten Umständen einzuschränken. Die Freiheit zum Beispiel.

Sylvia: Man muss das gut begründen und kann es nur für eine bestimmte Zeit tun. Keiner behauptet, dass Menschen nicht ins Gefängnis kommen dürfen. Aber in Wirklichkeit geht es beim Versuch der Relativierung der Menschenrechte meist nur um das Thema Asyl.
Und warum haben wir die Menschenrechtskonventionen überhaupt? Weil sich die Weltgemeinschaft nach den Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg darauf geeinigt hat. Ich finde, das ist eine große Errungenschaft.
Wir müssen immer bedenken, dass Menschenrechte uns alle betreffen. Es geht um unser aller Rechte. Auch wenn es für uns in Österreich derzeit schwer vorstellbar ist in eine Situation zu kommen, aus der wir fliehen müssen, sollten wir dran denken, dass viele Geflüchtete, die zu uns gekommen sind, das vorher auch für unmöglich gehalten haben. Das heißt, wir sollten uns gut überlegen, was wir davon aufgeben wollen.

Uschi: Die Geschichte der Menschenrechte geht vom Prinzip her weit zurück. Manche nennen hier etwa die Zehn Gebote oder auch Normen anderer Religionen.

Sylvia: Der Unterschied ist: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist von Menschen formuliert worden. Von Menschen für Menschen. Nicht von einem Gott oder irgendeiner höheren Macht. Sie beinhaltet die Goldene Regel, die es in fast allen Weltreligionen gibt: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“. Ich finde jedenfalls, dass sie eine sehr gute Orientierung bietet. Gerade in schwierigen Zeiten, in denen vieles in Frage gestellt wird.


Sylvia vor der Menschenrechte-Gedenkttafel am Parlament
Sylvia vor der Menschenrechte-Gedenktafel am Parlament

ich bin eine vereinsmeierin

Uschi: Du arbeitest ehrenamtlich für Amnesty International. Dabei ist der Arbeitsaufwand als Präsidentin sehr hoch. Ich finde das beachtlich.

Sylvia: Naja, es sind durchschnittlich circa zwei Stunden am Tag bei einer Fünftagewoche. Ich finde, es ist ein sinnvoller Beitrag.

Uschi:  Plus etliche Tage in Wien. Eine Sinngebung für dein Leben?

Sylvia: Es ist eine sinnstiftende Aufgabe. Was man in so einer Organisation auf jeden Fall lernen kann, ist Demokratie. Ich bin eine Vereinsmeierin. In einem Verein gibt es Dinge, die für unser Zusammenleben und unsere Demokratie wichtig sind.

Uschi: Zum Beispiel?

Sylvia: Zum Beispiel das Miteinanderreden und unterschiedliche Positionen zu vertreten, ohne sich gleich an die Gurgel zu gehen. Aber emotional darf es schon werden. Wir haben bei Amnesty einen sehr hohen Anspruch diesbezüglich. Es gelingt nicht immer alles, aber es gibt dieses Bemühen.

Uschi: Einen Konsens finden gehört wahrscheinlich auch dazu?

Sylvia: Ja, und das international: Einen Kompromiss zu finden zum Beispiel halte ich in einer Demokratie für unerlässlich. Demokratie braucht aber ihre Zeit und kostet Geld.


Sylvia
Sylvia

Technikaffin

Uschi: Du lebst seit dem Tod deines Lebenspartners vor über zwanzig Jahren allein. Ich kenne wenige Menschen, die das so gut können, wie du. Eine Ausnahme war vielleicht die Zeit der Pandemie, wo es doch schwieriger war.

Sylvia: Ich glaube, ich bin gut durchgekommen. Und ich habe die besten Voraussetzungen gehabt. Keine Familie, keine Kinder, die ich daheim betreuen musste. Meine Wohnung war groß genug, um mich im Homeoffice wohlzufühlen. Ich weiß allerdings nicht, wie es mir gegangen wäre, wenn ich die Arbeit nicht gehabt hätte. Zum Teil war ich im Büro und habe den Hin-und Rückweg zu Fuß genossen. Kein Verkehr, kaum jemand auf den Straßen. Das hat auch Qualität.

Uschi: Vieles ist online passiert, was eine Herausforderung war, aber auch etwas Positives hatte.

Sylvia: Auch unsere Gruppentreffen für Amnesty haben wir so geschafft. Da war die Technik einfach unglaublich positiv.

Uschi: Man kann generell sagen, dass du technikaffin bist. Empfindest du moderne Kommunikationsmittel als eine Bereicherung für dein  Leben?

Sylvia: Im Prinzip schon. Zumindest sehe ich nicht nur die Nachteile, sondern auch Vorteile, nicht zuletzt in Bezug auf social media. Es gibt zum Beispiel Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen die Möglichkeit, selbst ihr Schicksal zu erzählen, es zu dokumentieren, sich zu vernetzen, Verbündete zu finden. Aber es gehört mehr und besser geregelt, die social-media-Betreiber in die Pflicht genommen. Gerade erleben wir, wie die Nachteile wirklich aufpoppen. Und das sehr schnell. Natürlich sehe ich diese Gefahren.

Uschi: Also es verändert sich gerade?

Sylvia: Oder hat es sich schon seit längerem verändert, aber es kommt jetzt alles an die Oberfläche.

Uschi: Auch andere Frauen, die ich kenne, nützen digitale Medien viel, aber nicht alle mit so einer Freude daran.

Sylvia: Ich habe ja die ganze Entwicklung mitgemacht, vom Vierteltelefon, über das Fax bis hin zu meinem ersten Apple-Computer, da war ich 29. Ich halte das für sehr interessant. Auch im Verlag habe ich den Übergang von der Druckerei, vom Layout, das zum Teil noch händisch geklebt wurde, bis zur Digitalisierung mitbekommen. (Sylvia hat die letzten Jahrzehnte ihre Berufslebens beim Verlag Veritas gearbeitet).

langeweile gibt es nicht

Uschi: Du bist seit dreieinhalb Jahren in Pension. Ich habe nicht das Gefühl, dass das in deinem Leben ein sehr großer Bruch war. Obwohl sich natürlich viel verändert hat. Sehe ich das richtig?

Sylvia: Ich bin ja sozusagen direkt vom letzten Lockdown in die Pension gegangen, also war die Veränderung dann nicht mehr so groß. Die fand bereits mit dem ersten plötzlichen Lockdown statt. Meine Abschiedsfeier war schräg. Ein paar waren mit Maske da und ein Teil der Kolleginnen über Bildschirm, es war eine hybride Abschiedsfeier.

Uschi: Pensionsschock hattest du jedenfalls keinen.

Sylvia: Nein, ich bin einfach später aufgestanden. In der Früh Zeit zu haben, genieße ich sehr. Nicht irgendwo sein zu müssen.

Uschi: Aber du bist ja generell nicht der Typ, dem langweilig wird.

Sylvia: Nein. Mir war noch nie fad (lacht). Vielleicht weil ich viele Interessen habe, aber selbst wenn ich nichts tue, ist mir nicht langweilig. Ich brauche auch niemanden, der mich unterhält. Ich komme gut mit mir aus und kann mich sehr gut beschäftigen.

die demonstrantin

Uschi: Du gehst zu ziemlich vielen Demos, nicht nur für Menschenrechte. Warum? Glaubst du tatsächlich, damit etwas zu bewirken?

Sylvia: Manchmal schon. Ich glaube allerdings, dass das weniger als früher ist. Ich halte es grundsätzlich für wichtig, dass Menschen gegen oder für etwas aufstehen, etwas aufzeigen. Und eine Demo stärkt auch jene, die sich vielleicht nicht so trauen ihre Meinung zu vertreten und dann sehen, dass es noch andere gibt, die gleich oder ähnlich denken. Demos sind eine friedliche Möglichkeit der Meinungsäußerung, ein Ausdrucksmittel einer lebendigen Zivilgesellschaft im öffentlichen Raum und ein Menschenrecht.

Uschi: Wird das nicht zum Teil durch social media ersetzt? Wo jede und jeder alles verkünden kann?

Sylvia: Ich glaube, dass es gerade deshalb vielleicht noch wichtiger wird, persönlich irgendwo zu stehen und nicht anonym seine Meinung zu sagen. Auf einer Demo werde ich gesehen und ich bin nicht allein.


Sylvia auf Demo
Sylvia auf Demo

alt werden

Uschi: Du bist bald 64 Jahre alt. Du bekommst ein paar graue Haare, aber abgesehen davon wirkst du sehr fit. Du machst regelmäßig Bewegung und hast eine recht robuste Gesundheit.

Sylvia: Ich glaube, das hängt mit meinem Kochen zusammen (lacht).

Uschi: Beschäftigst du dich mit Krankheiten im Alter? Sind das Themen für dich?

Sylvia: Natürlich sind das Themen für mich. Allein schon aufgrund der Erfahrungen, die man halt mit dem Älterwerden gemacht hat. Es ist natürlich ein wichtiger Punkt für jemanden, der allein lebt. Ich setze mich damit auseinander, was passiert, wenn ich krank werde. Das beschäftigt mich sehr wohl.

Uschi: Im Gegensatz zu Menschen mit Kindern spielt bei uns eine Rolle, dass wir uns eben nicht auf die Hilfe von Kindern verlassen können.

Sylvia: In unserer Gesellschaft gibt es allerdings diese Gewissheit ohnehin nicht mehr, glaube ich. Ich weiß nicht, ob das schon im Vorhinein zu lösen ist, aber ich denke zum Beispiel über eine Wohnung mit Lift nach. Darüber, ob ich einmal in ein Altersheim will oder nicht. Es könnte schon ein Vorteil sein, betreut zu werden. Es ist eine Frage der Möglichkeiten.

aus dem schmerz lernen

Uschi: Du hast in den letzten Jahren deine Mutter, deinen Vater und eine deiner drei Schwestern verloren.

Sylvia: Meine Mutter ist 2014, mein Vater ist 2023 verstorben. Und dann relativ kurz danach meine Schwester. Vati war 88, da rechnet man zumindest mit der theoretischen Möglichkeit des Verlusts. Seltsam war, dass ich über meinen Vater irgendwie noch das Gefühl einer Verbindung zu meiner Mutter gehabt habe. Nach seinem Tod war es sehr eigenartig, keine Eltern mehr zu haben. Ein „Waisenkind“ zu sein.

Uschi: Was mich daran erstaunt ist, dass viele Menschen in unserem Alter so empfinden und das Wort „Waisenkind“ verwenden. Es sagt offensichtlich etwas über dieses Gefühl aus, dass die Eltern immer die Eltern bleiben. Auch wenn sich vieles im Alter umdreht und man mehr für sie sorgen muss.
Ich habe beobachtet, dass der Tod deiner Schwester dich sehr mitgenommen hat. Was ist es, das du vermisst?

Sylvia: Es hat mich so unvorbereitet getroffen. Sie war nur ein Jahr älter als ich und ist schon zwei Wochen nach der Diagnose gestorben. Sie war einfach meine Schwester. Wir waren immer zu viert. Auf Fotos. Bei Familientreffen. Wir waren vier Schwestern. Das ist jetzt anders.

Uschi: Wie bist du damit umgegangen?

Sylvia: Als mein Lebenspartner vor 20 Jahren gestorben ist, habe ich gedacht, wenn das bei jedem Verlust eines Menschen, den ich mag, so ist, dann geht sich das nicht aus. Das könnte ich gar nicht aushalten. Ich habe aus dieser Erfahrung viel gelernt.

Uschi: Was heißt das? War das bei den nächsten Verlusten irgendwie anders?

Sylvia: Ja, ich hab gemerkt, dass ich anders damit umgehen kann. Habe gelernt, was ich mit meiner Trauer mache, habe Rituale. Es ist einfach anders als beim ersten Mal. Weil ich besser weiß, was auf mich zukommt. Sowohl was die praktischen Dinge betrifft, als auch den Schmerz und die Trauer selbst.


Sylvia
Sylvia

für sich selbst sorgen

Uschi: Dein Umgang mit Trauer zeigt, dass du sehr gut für sich selbst sorgen kannst. Du bist dir gegenüber sehr aufmerksam. Du schaust, was dir fehlt und was du brauchst. Du hast zum Beispiel auch das Interview, das wir jetzt führen, letzten Herbst abgelehnt, weil du noch zu tief in dieser Trauerphase warst.

Sylvia: Ja, das war auch richtig für mich. Da war ich noch nicht so weit.

Uschi: Wenn es darauf ankommt, dann machst du das, was dir gut tut.

Sylvia: Naja, ich glaube schon, dass ich oft auf die Bedürfnisse anderer achte. Ich will ja keine alleinlebende Frau sein, die eigenbrötlerisch auf einem Egotrip ist.

Uschi: Ich rede nicht von Egotrip. Du investierst ja ohnehin so viel Zeit in deine Arbeit für andere Menschen. Ich spreche davon, dass du gut für dich sorgen kannst. Dass du dich nicht so schnell emotional selbst überforderst. Außer natürlich die Überforderung kommt von außen. Aber du tappst nicht in irgendwas hinein und denkst dann: „Scheiße, das hätte ich nicht tun sollen, ich fühle mich überfordert…“.

Sylvia: Ich glaube das hängt genau mit dem zusammen, was ich beschrieben habe. Mit der kompletten, emotionalen Überforderung, die ich erlebt habe. Mit meinem heutigen Wissen darüber, wie heftig das sein kann. Vielleicht passe ich zu viel auf. Das stimmt. Weil es einfach zu schmerzhaft war. ……. und dieses Gefühl ist ja irgendwie trotzdem da und vergeht nicht. Jetzt gerade zum Beispiel.

Uschi: Ja, ich merke es sehr stark. Es liegt gerade im Raum. Ich kann es spüren, du strahlst es in diesem Moment aus.

Sylvia: Das ist durch die Erinnerung, durch unser Gespräch - oder?

Uschi: Ein Trigger …

Sylvia:… ja...die Erinnerung an ein Gefühl... aber ich kann jetzt besser damit umgehen. Und es dauert nicht mehr eine Ewigkeit, bis dieser Zustand vergeht. Das ist, glaube ich, entscheidend.

.....und außerdem:

In der Rückschau sehe ich, dass meine Herkunft als Arbeiterkind prägend für mich war: Das Aufwachsen im Franckviertel, damals ein klassischer Arbeiterbezirk und generell das Leben in einer Industriestadt.
Zwar war die Luft schlecht, aber die kreative Atmosphäre, die in den späten 1970er- und 1980er-Jahren in der Stahlstadt herrschte, war aufregend. Das war vor allem musikalisch spannend, von Willi Warma bis zu Eela Craig.
Damals wusste ich noch nicht, dass Fritz Riedelberger, ein Leadsänger von Eela Craig einmal mein Lebensgefährte werden würde. In meinem Freundeskreis hat Musik schon immer eine große Rolle gespielt und natürlich waren auch Musiker in meiner Clique.

unbequeme reisen

Uschi: Das Klimaticket hat offenbar dein Leben verändert. Du hast zwar seit Jahrzehnten kein Auto mehr und bist auch vorher schon gerne mit dem Zug nach Wien gefahren, um ins Theater zu gehen oder eine Ausstellung zu besuchen oder irgendwohin in Österreich zum Wandern. Aber das ist doch deutlich mehr geworden.

Sylvia: Ja, ich finde, das Klimaticket als eine große Bereicherung. In erster Linie ist es die Flexibilität, die ich schätze, denn ich glaube, preislich zahlt sich das wahrscheinlich gar nicht so aus. Ich kann jeden Zug, jeden Bus, jede U-Bahn nehmen. Ich kann mich umentscheiden, wenn ich zum Beispiel nach Bad Ischl will und dann in Bad Aussee lande, weil ich Lust darauf habe oder nehme eine andere Route zurück. Das ist einfach unglaublich toll.

Uschi: Du lebst sehr klimabewusst. Du sparst zum Beispiel ziemlich streng mit warmem Wasser und Heizung in deiner Wohnung. Deine einzige Klimasünde, wenn man das jetzt so nennen will, sind eigentlich deine Fernreisen.

Sylvia: Das stimmt, das Reisen ist schon ein Punkt. Aber ich versuche es zu reduzieren, fliege viel weniger als früher.

Uschi: Wenn du verreist, dann allerdings richtig. Seit unserem letzten Gespräch für frauenleben.eu warst du in Ladakh in Indien, in der Sahara, in Südafrika, in Mauritius, in Thailand und das ist nur eine Auswahl. Im Herbst steht Japan auf dem Plan.

Sylvia: Wenn es die Weltlage zulässt.

Uschi: Du unternimmst diese Reisen sehr oft mit Weltweitwandern. Das ist eine Organisation, die Reisen organisiert, auf denen meist viel gewandert und nicht immer in Hotels genächtigt wird, weil es in der Wüste, in der Pampa in der Mongolei und in Grönland nicht überall Hotelzimmer gibt.

Sylvia: Naja, Japan ist als Reise ohne Zelt geplant (lacht). Aber es ist schon etwas Besonderes, in der Wüste Gobi zu zelten. Oder auf einem abgelegenen Zeltplatz im dünn besiedelten Osten Grönlands. Das Knacken der Eisschollen im Meer, speziell in der Früh im Zeltlager am Knus Rasmussen-Gletscher. Der Bezug zur Landschaft ist da sehr direkt. Wichtig ist mir allerdings auch, dass ein Reiseveranstalter auf ein faires Einkommen für alle Beteiligten vor Ort, auf einen respektvollen und nachhaltigen Umgang achtet und der größere Teil der Wertschöpfung bei den lokalen Betrieben bleibt.

Uschi: Du nimmst dafür einiges auf dich. Zum Beispiel die Nacht bei 5 Grad im Zelt zu verbringen. Ich mag mir gar nicht vorstellen, da raus aus dem Schlafsack zu krabbeln, um aufs Klo zu gehen! In ein Loch irgendwo und das mitten in der Nacht.

Sylvia: Vor allem das Anziehen der Schuhe nervt. Das ist unbequem. Aber es war immerhin nicht finster, weil in Grönland im Juli ja die Mitternachtssonne scheint. In der Mongolei war es finster. Das war dann schon eine Herausforderung und du weißt nicht, welche Tiere unter deinen Füßen sind. Andererseits war es mir immer wichtig, aus der Komfortzone rauszukommen. Aber schauen wir mal, wie das jetzt ist. Ich werde ja auch bequemer.


Sylvia in Grönland
Sylvia in Grönland

musik ist unverzichtbar

Uschi: Anders sind deine Städtereisen, die du meist mit der Bahn unternimmst. Da bist du viel in Museen und Ausstellungen unterwegs. In Wien und auch in Linz gehst du gerne ins Theater, ins Kino, in Konzerte. Du liest gerne. Ich glaube, wenn ich dich frage, worauf du am wenigsten verzichten könntest, dann ist die Antwort trotz deiner kulturellen Vielseitigkeit klar.

Sylvia: (Denkt nur kurz nach) Musik. Ohne Musik geht es nicht. Ich habe früher auch Instrumente gelernt, aber jetzt höre ich vor allem. Oft bis 2 Uhr früh.

Uschi: Dabei ist dein Spektrum extrem breit.

Sylvia: Ich höre alles.

Uschi: Was hörst du, wenn du die halbe Nacht mit Musik verbringst?

Sylvia: Da höre ich meist Popsongs.

Uschi: Ich kenne niemanden außer dir, die Popsongs hört. Du gehst mit mir in die Oper, wir besuchen gemeinsam Orgelkonzerte und Jazzkonzerte und dann hörst du nachts Popsongs?

Sylvia: Eigentlich ist eine Mischung aus Country-/Rock-/Popsongs …Es gibt sehr gute Popsongs. Und es gibt für jede Stimmung einen Popsong. Vor kurzem habe ich zum Beispiel wieder Kate Bush (This Womans Work) gehört, k.d. lang mag ich sehr gerne (die beste Version ever von Leonard Cohens “Halleluja“), Rose Cousins („Grace“). Außerdem Don Henley („The End of the Innocence“), John Farnham („You are the Voice“) …. Songs, die zur politischen Situation passen, da kann ich auch Gefühle abbauen. Manchmal auch bei Tim Bendzko „Nur Noch Kurz Die Welt Retten“ (lacht).


Sylvia
Sylvia

Uschi: Ich kenne dich jetzt seit über 30 Jahren…

Sylvia: … warte, es sind genau 32 Jahre.

Uschi: Du bist einerseits eine sehr eigenständige Denkerin, andererseits bist du durchaus bereit, andere Positionen zu überdenken. Du lässt dich nicht von dem leiten, was gerade Mehrheitsmeinung ist oder in den sozialen Medien viele likes bekommt. Aber du bist in hohem Maße gesprächsbereit. Hörst dir Meinungen an, setzt dich mit Positionen anderer auseinander und bist sogar bereit, sie zu übernehmen.

Sylvia: Wenn sie mich überzeugen. Warum nicht? Das hängt sicher mit meiner Arbeit für Amnesty zusammen. Ich hatte auch beruflich immer mit Menschen zu tun. Ich stehe seit 30 Jahren an den Info-Ständen und komme mit vielen unterschiedlichen Menschen ins Gespräch. Da habe ich gelernt, mir andere Positionen nicht nur anzuhören, sondern auch darauf einzugehen. Ich kann ja nicht für Menschenrechte aktiv sein und jedem meine Meinung aufdrücken. Es soll sich ein Gespräch mit Menschen entwickeln, die beim Info-Stand stehen bleiben. Ein Gespräch heißt für mich, zuhören und darauf zu antworten.

Uschi: Das ist aber schon eine große Herausforderung. Dafür bewundere ich dich schon immer.

Sylvia: Ich rede ohnehin mit jedem (lacht). Auf mich kommen auch in der Straßenbahn Leute zu und beginnen, mit mir zu reden. Ich bin offen für so was, führe Gespräche zu den unterschiedlichsten Themen.

Uschi: Du redest mit Esoteriker:innen, Coronaleugner:innen…

Sylvia: Die Bezeichnung Corona-Maßnahmengegner:innen gefällt mir besser. Jede Person hat ihre eigene Geschichte. Ich versuche mein Gegenüber zu verstehen, dann einzuhaken und vielleicht zum Nachdenken anzuregen. Ich habe die Hoffnung, dass ich durch ein freundliches Gespräch, in dem ich vielleicht Sympathien erwecke, in Erinnerung bleibe und damit auch meine Position zu Menschenrechten.


Sylvia
Sylvia

zufriedenheit

Uschi: Gibt es etwas, das du in deinem leben vermisst?

Sylvia: Ich denke darüber nicht so nach, weil ich sehe, wie viel ich habe, wie gut es uns, mir geht.

Uschi: Eine Partnerschaft vielleicht?

Sylvia: Ab und zu ja. Aber ich sehe ja nicht nur die positiven Seiten eines Zusammenlebens, sondern auch die anderen. Es gibt vereinzelt Momente, in denen ich etwas vermisse…..

Uschi: Ich nehme bei dir eine gewisse Grundzufriedenheit mit deinem Leben wahr.

Sylvia: Es gibt so viele Menschen, denen es schlecht geht, die sowenig haben, die in ausweglosen Situationen sind. Selbst wenn wir über Trauer reden. Ich habe die besten Voraussetzungen dafür, damit fertigzuwerden. Ich konnte immer dabei sein, wenn Mitglieder meiner Familie gestorben sind. Wenn ich daran denke, dass es so viele gibt, die nicht einmal wissen, wo ihre geliebten Menschen sind und ob sie überhaupt noch leben, dann relativiert das alles. Ich glaube, das ist ein wesentlicher Punkt meiner Grundzufriedenheit.

Das Gespräch wurde am 26. Juni 2025 in Linz geführt.

Sylvia Pumberger

Geboren 1961 in Linz, Oberösterreich

Arbeitete in den 80er Jahren in einem Reisbüro, ab 1998 in der Kundenberatung in einem oberösterreichischem Verlag seit 2022 in Pension.


Mitglied von Amnesty International. Aktiv in der Linzer Gruppe 8. Von 2002 bis 2006 Vorstandsmitglied von AI-Österreich, seit 2024 Präsidentin von Amnesty Österreich.


Reisen unter anderem nach Benin, Bhutan, Indonesien, Dominikanische Republik, Kuba, Nicaragua, Mexico und Thailand. In den letzten Jahren Reisen nach Ladakh in Indien, in die Sahara, nach Südafrika und Mauritius.