Sie ist in Russland geboren und auf der Krim aufgewachsen. In der Sowjetunion führte sie ein gutes Leben, aber für ihre Tochter wollte sie mehr und ging mit ihr nach Österreich. Rollschuhfahren mit über 40 - diese Freiheit, die ihre neue Heimat bietet, schätzt sie sehr. Von Flüchtlingen, die sie unterrichtet, erwartet sie mehr Bereitschaft Leistung zu erbringen.


Die Glücksformel

Uschi: Ich möchte dieses Gespräch mit Ihrer Glücksformel beginnen: G = G + F + A + I (Glück = Gesundheit + Familie + Arbeit + Interessen). Das ist ein recht pragmatischer Zugang. Haben Sie generell so einen pragmatischen Zugang zum Leben?

Vera: Nein, ich glaube, dass ich eher emotional bin. Ich denke, dass die junge Generation viel pragmatischer ist als wir. Ich bin ein Gefühlsmensch, reagiere oft impulsiv und zu schnell und das ist nicht immer richtig. Manchmal sollte ich zuerst denken und dann etwas sagen.

Vera

Veras Vater war Marineoffizier, ihre Mutter hatte Deutsch und Englisch studiert. Vera erinnert sich an eine perfekte Kindheit, die sie gemeinsam mit ihrem um sechs Jahre jüngeren Bruder hatte.

Vera: Jeder versteht unter einer perfekten Kindheit etwas anderes, aber ich war auf jeden Fall sehr glücklich. Ich denke, dass alles, was ich in der Kindheit bekommen habe, noch bis heute wirkt.

Uschi: Was war das?

Vera: Viel Liebe. Meine Eltern haben für uns Kinder gelebt, wir waren ein wichtiger Teil ihres Lebens. Ich glaube, dass uns alles, was wir in der Familie erfahren, sehr prägt. Dass wir diese Muster, die wir sehen, später einmal selbst leben. Zum Beispiel haben meine Eltern sehr viel für uns Kinder gemacht, und das tue ich auch für meine Tochter.

Uschi: Waren Ihre Eltern streng?

Vera: Schon streng, aber auf weiche Art und Weise. Streng mit weichen Händen.

Vera Wöss

Geboren 1959 in Petropavlovsk, Kamchtsky (Russland)

1976 - 1981 Studium an der Technischen Universität Sevastopol

1981 Diplom zur Ingenieurin der Mechanik

Ab 1983 Studium der Pädagogik und Psychologie, Sevastopol

1987 - 1999 Lehrerin Mittelschule und Gymnasium, Sevastopol

2000 Umzug nach Österreich

2000 - 2002 Kurs Deutsch als Fremdsprache, ÖSD-Prüfung

Ab 2002 Diverse Fortbildungen

Lehrerin für Russisch, Trainerin für EDV (BFI Linz, FH Linz, Hagenberg, Sprachinsitut CEF, VFQ (Gesellschaft für Frauen und Qualifikation)

Weiße Stadt am Schwarzen Meer

Die ersten Jahre ihrer Kindheit verbrachte Vera mit ihrer Familie auf der Halbinsel Kamtschatka im Osten der damaligen Sowjetunion. Später übersiedelten sie auf die Halbinsel Krim.

Vera im Interview mit Uschi Christl

Vera: Es muss an einem frühen Morgen im Juni gewesen sein, als wir auf der Krim ankamen. Ich erinnere mich an den ersten Eindruck: Die Stadt Sewastopol ganz weiß, dazu das Blau des Himmels und des Meeres. Die Stadt ist durch verschiedene Buchten geteilt, die man mit kleinen Schiffen erreichen kann. So sind wir dann mit dem Boot zu unserer Wohnung gefahren. Das war wirklich schön und romantisch. Es war eine wunderschöne Zeit….. eine wunderschöne Zeit. Das Klima dort ist wunderbar. Wir haben so viele Möglichkeiten gehabt. So viel Freiheit. Wunderschön, wunderschön.

Uschi: Sie waren eine gute Schülerin. Dass sie an der Technischen Universität in Sewastopol studiert haben, war aber eher Zufall.

Vera: Es war klar, dass ich studiere. Das war in der Sowjetunion einfach so. Weil meine Mutter nicht wollte, dass ich nach Moskau oder Sankt Petersburg ging, blieb nur mehr die nahe gelegene Technische Universität. Die Aufnahmeprüfungen in Physik und Mathematik waren nicht leicht, aber ich stand in Konkurrenz zu anderen Schülerinnen und Schülern, die auch einen Platz an der Uni wollten, und das trieb mich an. Ich wollte einfach das Ziel erreichen.

Uschi: Kann man sagen, dass Disziplin und Zielstrebigkeit über der Neigung standen?

Vera: Ja, wahrscheinlich kann man das sagen.

Tschernobyl

Nachdem Vera ihr Technikstudium erfolgreich beendet hatte, ging sie in die Stadt Prypjat, nur vier Kilometer vom Kernkraftwerk Tschernobyl entfernt.

Vera: In der Sowjetunion waren wir verpflichtet, nach dem Studium drei Jahre in dem Bereich zu arbeiten, den wir studiert hatten. Oft bleibt man dann dort, wo diese Pflichtjahre absolviert werden. Aber Prypiat war eine eher unbekannte Stadt, damals kannte niemand Tschernobyl, das war ein Loch. Für mich war das einfach Pflichterfüllung, bleiben wollte ich nicht. Es war klar, dass ich den Mann, den ich während des Studiums kennengelernt hatte, bald heiraten würde. Wobei es nicht schlecht war, dort zu arbeiten, weil Arbeit in der Nähe von Atomkraftwerken sehr gut bezahlt wurde, man bekam auch gleich eine Wohnung, was damals nicht selbstverständlich war.

Uschi: Sie haben dann geheiratet und sind zu Ihrem Mann gezogen und damit fort aus Tschernobyl, - das war nur ein Jahr vor dem Reaktorunglück?

Vera: Ja ungefähr. Ich erinnere mich noch gut daran. Zwei oder drei Tage später haben wir davon erfahren. Meine Mutter kam mich besuchen und meinte, dass wir nicht draußen spazieren gehen sollten. Ich hatte keine Ängste, aber ich hatte viele Bekannte dort, an die ich denken musste. Eine Freundin blieb sehr lange, weil sie für die Essenspakete zuständig war, die die Evakuierten mit auf den Weg bekamen. Sie wurde sehr krank. Ihr Sohn kam etliche Jahre nach dem Unglück mit einer schweren gesundheitlichen Schädigung auf die Welt. Sie sind heute beide invalide. Die Information damals war sehr spärlich.

Uschi: Sie hatten Glück.

Ver: Ich weiß nicht, ich denke nie daran. Das ist kein Thema für mich. Das ist einfach so. …. Ich möchte mein Leben nicht schwieriger machen mit solchen Gedanken. Meine Schwiegermutter hat allerdings gemeint, dass mir ihr Sohn mit der Heirat das Leben gerettet hätte.

Freundschaften als Überlebensfrage

Vera zog mit ihrem Mann, einem Marineoffizier so wie ihr Vater, in die Nähe von Murmansk. Dort, in der Einschicht nördlich des Polarkreises, nahe an der Grenze zu Norwegen und Finnland, ist die Landschaft kahl, die Wintermonate sind kalt und dunkel.

Vera: Klimatisch habe ich das schon sehr schwierig erlebt. Aber, wie immer im Leben, gab es zwei Seiten. Die menschlichen Beziehungen dort sind besonders. Das ist wie eine Familie. Ohne gegenseitige Hilfe überlebt man nicht. Da bildet man tiefe Freundschaften und das wärmt im Leben. Diese Freundschaften halten bis heute.

Vera und ihr Mann lebten, gemeinsam mit anderen Offizieren und deren Ehefrauen, in einem militärischen Sperrgebiet. In dieser Gemeinschaft war gegenseitige Unterstützung ein Prinzip.

Vera

Vera: Ein Beispiel: Die Busverbindung zwischen den einzelnen kleinen Siedlungen war schlecht. Wenn ich dort an der Haltestelle auf einen Bus gewartet habe und ein Auto ist vorbeigekommen, hat dieses Auto auf jeden Fall gehalten und mich mitgenommen. Bei Temperaturen von - 40°C war das eine Überlebensfrage.

Die Frauen in dieser Zone arbeiteten in der Bibliothek oder als Verkäuferin, im Kindergarten oder in der Schule. Vera, die eben eine Tochter bekommen hatte, wusste, dass sie in dieser Gegend nur schwer Arbeit entsprechend ihrer technischen Ausbildung finden würde und absolvierte deshalb ein Fernstudium für Pädagogik an der Universität im hundert Kilometer entfernten Murmansk.

Vera: Die gesetzliche Karenzzeit betrug drei Jahre und es war klar, dass ich danach wieder arbeiten wollte. Also habe ich mir ein zweites Standbein geschaffen, um mehr Chancen zu haben. Bei uns war es ja für Frauen normal zu arbeiten.

Familienstandard

Die Ehe ging nach fünf Jahren auseinander. Vera war sich lange nicht sicher, ob die Scheidung richtig war.

Vera: Ich bin eine verantwortungsvolle Person und habe immer darüber nachgedacht, was es für meine Tochter bedeutet, ohne Vater aufzuwachsen. Das war für mich die wichtigste Frage, deshalb habe ich mich lange schlecht gefühlt.

Uschi: Wie sehen Sie das heute, fünfundzwanzig Jahre danach? War es die richtige Entscheidung?

Vera: Ja, ich glaube schon. Für mich hat meine eigene Kernfamilie den Standard für meine Vorstellungen von Familie vorgegeben. Mein Mann war nicht schlecht, aber der Standard, den ich von meiner Familie gewohnt war, war eben ein anderer. Ich war von meiner Ursprungsfamilie her anderes gewöhnt. Ich fand es nicht richtig, das sich alles um meinen Mann drehte. Es ging zu viel um seine Wünsche und Bedürfnisse.

Uschi: Sie hatten unterschiedliche Vorstellungen von Familienleben?

Vera: Ja. Ich verstehe, dass für viele Menschen die Arbeit an erster Stelle steht, das ist für mich im Moment ja auch so. Aber eine gewisse Verantwortung für die Familie muss man tragen. Ich habe gespürt, dass er nicht so zu meiner Tochter war, wie er hätte sein sollen. Wenn er ein guter Vater gewesen wäre, dann wäre ich wahrscheinlich heute noch mit ihm verheiratet. Unter diesen Verhältnissen dort oben in der Einsamkeit war der Mangel noch verstärkt spürbar. Wir haben viele, viele Gespräche miteinander geführt, aber irgendwann war Schluss.

Vera ging zurück auf die Krim. Sie unterrichtete Mathematik, Physik und Elektrotechnik. Anfangs lebte sie bei ihrer Familie, später in einer Eigentumswohnung. Sie erinnert sich an eine gute Zeit, an gemeinsame Feste, die gefeiert wurden, an Ausflüge und Spaziergänge. Dass sie Alleinerzieherin war, fand sie nicht beschwerlich.

Vera: Wenn ich zum Beispiel länger in der Arbeit war, haben sich meine Eltern oder mein Bruder um meine Tochter gekümmert. Oder wenn ich in der Früh Stress hatte, brachte mein Vater meine Tochter in den Kindergarten. Das ist Familie.

Uschi: Sie betonen die Familie schon sehr. Das ist Ihnen wichtig.

Vera: Ich betone das nicht. Das ist wichtig für uns alle. Da liegen unsere Wurzeln. Es kommen im Leben viele Sachen dazu, aber die Basis wird in der Familie gelegt.

Das Ende der Sowjetunion

Uschi: Wie haben sie den Fall des Eisernen Vorhangs 1989 und den Zerfall der Sowjetunion 1991 erlebt?

Vera: Der Fall der Mauer hat uns nicht betroffen, aber das Leben nach dem Zerfall der Sowjetunion ist viel schwieriger geworden. Hier in Europa schätzt man Gorbatschow ganz besonders. Wir Russen tun das nicht. Der größte Fehler war, dass die Sowjetunion auseinandergebrochen ist. Es hätte andere Wege gegeben. Nicht so radikal. Nach außen hat Gorbatschow viel mehr gemacht, als für das eigene Volk und daher ist er bei uns bis heute noch sehr unbeliebt.

Uschi: Finden Sie nichts Positives an ihm?

Vera: Gut waren seine Kontakte nach Europa. Auch seine Bemühungen um den Frieden sehe ich positiv. Aber die Bevölkerung kann ihm bis heute das Ende der Sowjetunion nicht verzeihen. Das war früher wie ein Organismus, wie Teile einer Familie. Das haben nicht nur die Russen so empfunden. Jetzt kümmert sich jedes Land nur um sich selbst.

Uschi: Haben sie nicht auch Aufbruchsstimmung gespürt?

Vera: Nein, da standen eher die Schwierigkeiten im alltäglichen Leben im Vordergrund. Es herrschte ziemliches Chaos.

Vera mit Schülerinnen

Uschi: Haben Sie das Leben in der Sowjetunion immer als positiv empfunden?

Vera: Naja, für unsere Familie war es gut. Dass wir uns für bestimmte Lebensmittel lange anstellen mussten, das hat es schon gegeben. Das war schlechte Planung. Aber weil mein Vater und mein Mann Offiziere waren, mussten wir nicht, so wie andere, jahrelang auf eine Wohnung warten. Grundsätzlich war das Leben in der Sowjetunion stabil. Alle hatten Arbeit. Es gab soziale Garantien, kostenlose Ausbildung, kostenlose medizinische Versorgung und viele andere Möglichkeiten.

Uschi: Was war für Sie nach dem Zerfall der Sowjetunion schlechter?

Vera: Die Veränderungen im Alltagsleben waren enorm. Ein neuer Pass, eine neue Bank, Autokennzeichen ändern, ich war mein Leben lang Russin gewesen, plötzlich war ich Ukrainerin.

Die russische Annexion

Als die Ukraine unabhängig wurde, lebte Vera noch auf der Krim. Während der Annexion der Krim durch die Russen 2014 war Vera bereits in Österreich, wobei sie das Wort Annexion ablehnt.

Vera: Nein, das ist freie Entscheidung von Bevölkerung. Die Krim war sowieso immer russisch. Natürlich gab es politische und militärische Interessen. Aber das Thema der Nationalität war lange nicht aktuell. Wir sind ja in einer multikulturellen Gesellschaft aufgewachsen. Es hat keine Rolle gespielt, welcher Nationalität der Nachbar war.

Für Vera war der Euromaidan, also die Bürgerproteste in der Ukraine 2013 und 2014, nicht nachvollziehbar.

Vera: Wir haben Angst gehabt, dass das eskaliert. Wir waren froh, dass die Krim zu Russland gekommen ist. Ich fahre ja jedes Jahr nach Hause. Dieses Glücksgefühl, als die Krim wieder zu Russland kam, das war besonders. Ich habe noch nie so viele russische Fahnen gesehen. Da war eine Euphorie. Menschen haben zu dieser Zeit mehr Respekt gehabt, mehr Solidarität, sie haben sich als Einheit gefühlt. Normalerweise jeder für sich. Das war ganz deutlich. Das ist jetzt drei Jahre her, ich glaube, jetzt sind sie weniger glücklich, trotzdem findet es die Mehrheit gut, dass die Krim zu Russland gekommen ist.

Uschi: Da gibt es aber schon verschiedene Sichtweisen.

Vera: Das stimmt. Ich habe zum Beispiel eine ukrainische Freundin hier in Österreich, die das anders sieht. Sie findet, dass Putin an allem schuld ist. Sie ist nicht gegen die Russen, aber gegen Putin. Die politische Situation zur Zeit ist schwierig.

Uschi: Fühlen Sie sich als Russin?

Vera: Natürlich.

.....und außerdem:

Feminismus: Wahrscheinlich bin ich keine Feministin, aber ich finde es gut, wenn Frauen mehr Möglichkeiten, Chancen haben. Und deshalb arbeite ich ja auch beim VFQ (Gesellschaft für Frauen und Qualifikation). Die Idee dass für Frauen so viel gemacht wird gefällt mir.

Österreich: Ich bin seit fast zehn Jahren österreichische Staatsbürgerin. Nicht nur auf dem Papier, sondern auch emotional. Ich besuche zum Beispiel gerne Tennistourniere. Und da ist für mich entscheidend, wie die Österreicherin spielt und wie die Russin spielt. Bei diesen Spielerinnen fiebere ich mit.

Kultur: Ins Theater gehe ich sehr gerne. Ich hatte schon in Russland immer ein Abo für Konzerte. Das habe ich dann hier vermisst. Seit es das Musiktheater in Linz gibt, lese ich schon im Sommer den Spielplan für die nächste Saison. Im September gehe ich mit einer großen Exceltabelle, in die ich mögliche Termine für dieses und jenes Stück eingetragen habe, zur Kassa und dann kaufe ich einen ganzen Packen Karten für Oper, Ballett und Schauspiel.

Ein neues Leben

Im Jahr 2000 bekam Veras Tochter die Chance, im Rahmen eines Austausches in Österreich zu studieren. Mutter und Tochter wanderten gemeinsam nach Österreich aus.

Uschi: Ihre Tochter hätte ja auch zum Beispiel in Moskau studieren können? Warum wollte sie aus Russland weg?

Vera: Das ist eine gute Frage…… Meine Tochter wollte in Österreich studieren und wir haben uns über die Möglichkeit einer Ausbildung im Ausland gefreut, denn das gibt natürlich ganz andere Perspektiven. Wir waren damals unsicher, ob sie das schaffen könnte. Da gab es Aufnahmeprüfungen und sie musste Deutsch lernen. Wir haben gedacht, wir probieren es einfach. Als sie es dann geschafft hat, war die Freude sehr groß.

Uschi: Aber Sie sind ja schon aus Russland weg, bevor Ihre Tochter die Prüfungen geschafft hat. Sie haben Familie und Freunde verlassen und Ihren Beruf aufgegeben - das ist doch eine schwerwiegende Entscheidung gewesen.

Vera: Aber wie hätte ich meine Tochter allein lassen können? Sie war 18 Jahre alt. Ich dachte, ich mache für sie alles, was ich kann. Wenn ich nicht mitgegangen wäre, hätte ich ihr Studium nicht finanzieren können.

Vera

Uschi: Trotzdem, - Sie haben Ihren Beruf aufgegeben, Ihr Land verlassen, das kann doch nicht leicht gewesen sein.

Vera: Das ist Unterstützung für meine Tochter. So wie Sie das formulieren, ……. habe ich das nicht betrachtet, ich hatte keine Zeit darüber nachzudenken. Bis heute nicht. Das ist zwar schon so viele Jahre her, aber das ist wahrscheinlich eine Überlebensstrategie für mich.

Uschi: Haben Sie es jemals bereut?

Vera: (zögert)……..ich habe viele Ängste….. meine heutige Situation ist anders. Es ist einfach überleben.

Uschi: Hätten Sie sich unter Umständen auch alleine dazu entschlossen, Russland zu verlassen?

Vera: Nein. Niemals. Nein. Niemals. Niemals.

Neue Sprache

Vera kam mit einem Touristenvisum nach Österreich, fand sofort Arbeit und begann Deutsch zu lernen. Sie besuchte Kurse, aber vor allem brachte sie sich vieles selbst bei.

Vera: Nach der Arbeit habe ich die Bücher geöffnet und keine zwanzig Minuten gebraucht, bis ich eingeschlafen bin. Deutsch war sozusagen meine Schlaftablette. Aber ich musste zu den Prüfungen, egal ob ich wollte oder nicht, ich musste das lernen und irgendwie gewöhnt man sich daran. Ich habe viel gelernt.

Uschi: Nach eineinhalb Jahren hatten Sie Deutschkenntnisse auf C1 Niveau. Wie leben Sie jetzt mit der deutschen Sprache? Mögen Sie diese Sprache? Fühlen Sie sich in ihr zu Hause?

Vera: Ja. Aber ich denke bis heute noch auf Russisch. Wenn ich höre, dass manche Menschen in einer fremden Sprache denken oder träumen, kann ich das nicht nachvollziehen. Russisch ist meine Sprache.

Uschi: Würde unser Gespräch anders verlaufen, wenn wir Russisch sprächen? Hätten wir mehr Nähe?

Vera: Nein, ich glaube nicht. Das spielt keine Rolle. Ich muss sowieso nachdenken, um Ihre Fragen zu beantworten. Das sind ja keine leichten Fragen. Auf Russisch muss ich ja auch nachdenken.

Neue Heimat Mühlviertel

In den ersten Monaten in Österreich arbeitete Vera in einer Beratungsstelle der Volkshilfe für Flüchtlinge (Tschetschenen und Afrikaner, Afghanen und Iraker). Ihr Arbeitsgebiet war hauptsächlich der Bezirk Rohrbach im Mühlviertel. Das bezeichnet sie heute als Glück.

Vera: Ich sage bis heute, dass meine österreichische Heimat der Bezirk Rohrbach ist, obwohl ich jetzt in Linz lebe. Ich wurde dort sehr gut aufgenommen. Alle kennen alle, alle wissen alles voneinander. Manchmal ist das negativ, aber für mich und meine Tochter war das positiv. Das war für uns sozusagen ein geschützter Raum. Ältere Damen haben mit mir so gesprochen: DU GEHEN, DU KOMMEN! Sie haben laut und langsam geredet….. später habe ich dann bemerkt, dass Deutsch auch für meine Nachbarinnen eine Art Fremdsprache war, weil sie normalerweise ja Dialekt sprechen. Ich mag diese Leute auch heute noch, wenn ich sie auf der Straße treffe.

Nach eineinhalb Jahren in Österreich heiratete Vera und bezeichnet die sehr kurze Periode dieser Ehe rückblickend als ihre schlimmste Zeit.

Vera: Das war eine ganz blöde Sache. Diese Zeit kann man aus meinem Leben streichen. Wir waren intellektuell ganz unterschiedlich. Ich habe zu diesem Zeitpunkt zwar kaum Deutsch gesprochen, aber er hat gemerkt, dass ich ihm überlegen bin. Und damit hat eine Zeit der Erniedrigungen begonnen. Er hat immer so Sachen gesagt, wie: „Ich habe zwar keine Universitätsbildung, aber ich habe Hausverstand…“. Keine körperliche Gewalt, aber psychische.

Uschi: Warum haben Sie geheiratet?

Vera: Mir hat gefallen, dass er Bereitschaft gezeigt hat, für mein Kind etwas zu tun und ich habe ihn am Anfang auch gemocht.

Uschi: Haben Sie auch materielle Sicherheit gesucht?

Vera: Ja schon. Aber ich habe auch gedacht, dass meine Tochter nach ein paar Jahren aus dem Haus wäre und sie ihr Leben lebt und ich dann allein wäre. Ich wollte eine Person, die ich lieben kann und um die ich mich kümmern kann.

Arbeit mit Flüchtlingen

Vera hat in ihren Anfangsjahren für eine Hilfsorganisation mit Flüchtlingen gearbeitet. Auch jetzt unterrichtet sie asylberechtigte Frauen (anerkannte Flüchtlinge), die Arbeitstrainings absolvieren. In diesen Projekten lernen Frauen ganz banale Sachen, wie Disziplin einzuhalten, aber auch Bewerbungen schreiben, Berufsorientierung, EDV und begleitend Deutsch.

Vera: Ich mache mir Sorgen. Ich sehe ja, wie einerseits der Druck in der österreichischen Gesellschaft immer größer wird. Ich sehe, wieviel Menschen arbeiten und was sie alles leisten müssen, wenn sie in diesem Land leben wollen. Beobachte, wie sie immer unter Stress sind. Auf der anderen Seite gibt es auch die, die aus anderen Ländern kommen und hier ein angenehmes Leben führen wollen, ohne eine Leistung dafür zu erbringen. Wie sie verhätschelt werden. Wenn man das thematisiert, gilt man gleich als ausländerfeindlich, als nicht tolerant, als nicht sozial. Aber manchmal ist es unerträglich. Wenn ich sehe, dass einzelne Flüchtlinge jedem die Schuld geben, nur nicht sich selbst. Wenn manche immer von allen Seiten betreut werden wollen und Ansprüche stellen.

Uschi: Das überrascht mich. Wie können Sie mit diesen Menschen arbeiten, wenn sie so viel Ablehnung zeigen?

Vera: Nein, das tue ich nicht. Ich denke, dass jeder Mensch großes Potential hat, halt auf verschiedenen Gebieten. Es ist unterschiedlich. Manche sind nicht so lange in Österreich und brauchen wirklich Unterstützung, vor allem die Sprache ist wichtig. Ich sehe, wie sie lernen, wie willig sie sind. Aber dann sehe ich Menschen, die schon viel länger als ich in Österreich sind und noch immer die Sprache nicht gelernt haben.

Die Integrationsformel

Zum Thema Integration führe ich mit Vera mehrere Interviews. Beim letzten Gespräch überrascht sie mich mit einer Formel.

Vera: I = M + M (Integration = Möglichkeiten + Mühe). Österreich bietet Migranten und Flüchtlingen so viel mehr Möglichkeiten als andere Länder. Das Sozialsystem ist gut ausgebaut, für jedes Problem gibt es eine Beratung. Das ist gut, aber wenn es viele Möglichkeiten gibt und keine Mühe, dann gibt es keine Integration. Österreich nimmt seine Verantwortung wahr, aber die Menschen, die nach Österreich kommen, müssen auch mitspielen. Sonst kann Integration nicht funktionieren.

Vera mit Schülerinnen

Uschi: Sie sagen, Sie machen Ihre Arbeit gerne, arbeiten Sie auch gerne mit Flüchtlingen?

Vera: Natürlich.

Uschi: Ich bekomme das so schwer zusammen: Sie sagen, dass sie gerne mit ihnen arbeiten und gleichzeitig sagen Sie, dass die Flüchtlinge zu sehr verhätschelt werden … das geht so schwer zusammen für mich.

Vera: Natürlich sehe ich das aus meiner Warte, mit meinen Erfahrungen. Ich habe ja auch kämpfen müssen. Und ich habe Angst, dass die Lebensqualität in Österreich schlechter wird. Haben Sie diese Angst nicht?

Uschi: Nein, die habe ich ganz und gar nicht

Ein Job ist zu wenig

Uschi: Ihre Tochter ist 32, hat inzwischen fertig studiert, ist Diplomingenieurin und Doktorin. Was haben Sie versucht, Ihrer Tochter mitzugeben?

Vera: Schwierige Frage. Ich weiß nicht, was sie mitnimmt. Ich glaube, unsere Eltern sind ja so etwas wie Vorbilder. Für mich war wichtig, dass sie eine Ausbildung hat, dass sie selbstständig und unabhängig leben kann. Meine Tochter ist eine gute junge Frau, wahrscheinlich ein bisschen pragmatischer als ich. Meine Mama und ich sind nicht nur Mutter und Tochter, sondern Freundinnen, wir können miteinander vieles besprechen, es gibt keine Tabus. Mit meiner Tochter und mir ist das genauso. Sie lebt auch noch bei mir. Im Hotel Mama.

Uschi: Sie arbeiten beim VFQ, einer Organisation, die Frauen durch Beratung und berufliche Qualifikation unterstützt, außerdem unterrichten sie Russisch an mehreren Instituten - das heißt, Sie brauchen mehrere Jobs, um zu überleben?

Vera: Ich habe mir diese zwei Standbeine zu meiner Sicherheit aufgebaut. Einmal ist dort mehr zu tun, einmal da mehr zu tun.

Uschi: Sie arbeiten aber schon sehr viel. Wenn Sie in Russland geblieben wären, dann hätten Sie beruflich ein leichteres Leben, ganz abgesehen davon, dass Sie dort schon mit 55 Jahren in Pension gegangen wären.

Vera: Das stimmt.

Uschi: Hat sich die Mühe gelohnt?

Vera: Das weiß ich nicht. Ich finde, dass ich Glück habe. Ich mache das, was mir gefällt. Sonst könnte ich nicht soviel arbeiten. Ich mache das, was mir gefällt, auch wenn es schwierig ist. Es ist wie am Fließband. Zwei Stunden unterrichte ich eine Gruppe, dann fahre ich zur nächsten Gruppe. Überall muss ich perfekt sein. Denn die Konkurrenz ist ja da. Ich muss mich auch vorbereiten. Wenn ich in einer Gruppe arbeite, dann muss ich mich voll konzentrieren. Ich kann keine Minute nachlassen. Das ist einfach so

Das freie Leben

Vera hat von Anfang an in sozialen Projekten in Österreich gearbeitet. Das hat ihr einen besonderen Blick auf die Österreicher vermittelt.

Vera: Ich habe die Österreicher schätzen gelernt. Ihre Bereitschaft zu helfen, ihre Geduld, ihr Verständnis. Auch ihre Offenheit und Ehrlichkeit.

Uschi: Was schätzen sie sonst noch an Österreich?

Vera: Fast alles. Hier gibt es viel mehr Möglichkeiten. Das Leben allgemein ist in Österreich leichter als in Russland. Ich war zum Beispiel über 40 Jahre alt, als ich mit dem Rollschuhfahren begonnen habe. Das wäre in Russland unmöglich gewesen. Da hätte man mich als verrücktes altes Weib ausgelacht. Das wäre nicht akzeptiert worden. Hier ist alles möglich. Hier sehe ich Menschen, die über 70 sind und mit dem Motorrad fahren. Frauen und Männer. Da gibt es keine Grenzen. Wenn Wünsche da sind, ist auch ihre Erfüllung möglich.

Uschi: Wenn sie von diesen Möglichkeiten sprechen, meinen Sie nicht nur die materiellen Möglichkeiten, sondern auch die gesellschaftlichen?

Vera: Genau. Ob eine Wohnung drei Meter größer oder kleiner ist, ob auf dem Konto mehr oder weniger ist, das ist nicht so entscheidend. Aber diese Freiheit in der Gesellschaft. Meine Nachbarschaft im Bezirk Rohrbach zum Beispiel. Es ist unglaublich, wie aktiv die sind, im Vergleich zu den Pensionisten in Russland, im Vergleich zu meiner Mama. Auch die Organisation VFQ, für die ich arbeite. Eine Gesellschaft, die es Frauen ermöglicht, sich noch in einem gewissen Alter umschulen, umqualifizieren zu lassen, wäre in Russland unmöglich.

Uschi: Wir kennen uns noch nicht lange und siezen uns.

Vera: In Österreich ist man viel schneller per du als in Russland. In Russland ist das Sie nicht ein Zeichen von Distanz, sondern von Respekt. Es kommt relativ spät zum Du. Das muss reifen. Dann kommt das automatisch. In Österreich geht das für mich zu schnell.

Uschi: Auf einer Zufriedenheitsskala von 1 bis 10. Wie zufrieden sind Sie zur Zeit mit Ihrem Leben?

Vera: Ich glaube 10. Oder zumindest 9,5. Das einzige, was fehlt, ist mehr Zeit für mich. Sonst bin ich glücklich.

Die Gespräche wurde im April 2017 in Linz geführt.